Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Unter Fremden
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 673–676
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Erzählung in 5 Teilen // Heft 43–47
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[673]

Unter Fremden.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius

Ein finsterer, schwerer Himmel lag über der Häusermasse der amerikanischen Stadt, daß die Gaslichter in den endlosen schnurgeraden Straßen kaum ihren nächsten Umkreis zu erhellen vermochten und die dunkeln, schweigenden Gebäude in unerkennbare Fernen hinauf zu wachsen schienen. Es war schon spät; nur dann und wann noch klang durch die Stille ein verschwindendes Wagengerassel oder das Lachen einer verspätet heimkehrenden lustigen Gesellschaft, während in langen Zwischenräumen raschen Schritts ein einzelner Fußgänger, vorsichtig sich von den Häusern entfernt haltend, den Seitenweg entlang eilte.

Da bog um die Ecke einer der breiten Straßen eine dicht verschleierte weibliche Gestalt, hielt scheu ihren Schritt an und schien auf ein ihr nachfolgendes Geräusch zu horchen, um dann fliegenden Schrittes und scheinbar unbekümmert um die eingeschlagene Richtung den sich vor ihr aufthuenden Weg zu verfolgen, und erst als sich ihrem Auge ein noch erleuchtetes Kellerlocal gezeigt und sie einen Blick durch die unverhüllten Fenster geworfen hatte, blieb sie stehen, athemschöpfend und dann wie unentschlossen bald durch die erhellten Scheiben, bald in die einsame Straße hineinblickend.

In diesem Augenblicke öffnete sich die Glasthür des Locals, um eine kräftige, untersetzte Figur in langer Schößenjacke und groben, leinenen Beinkleidern, die sich in den Schäften der starken Stiefeln verloren, hindurch zu lassen. Pfeifend schritt der Mann die kurze, steinerne Treppe hinan und prallte hier leicht vor der Frauengestalt zurück, welche einen raschen Schritt nach dem Eingange gethan hatte.

„Um Gotteswillen, Sir,“ begann die Letztere in geläufigem Englisch, ihren Schleier halb zurückschlagend, „können Sie mir nicht sagen, wo das Unionhotel ist? Ich habe mich in der Stadt verloren und finde Niemand, der mich zurechtweist.“

Der Angeredete maß die Sprecherin einen Augenblick vom Kopfe bis zu den Füßen, und ein eigenthümliches Lächeln glitt dann über das derbe, noch jugendliche Gesicht. „Verstehe verdammt schlecht Englisch, Miß,“ sagte er, „und nach Ihrem Unionhotel werden Sie wohl wo anders suchen müssen, als hier. ’s ist übrigens schon ziemlich spät dazu!“

„O, so verstehen Sie Deutsch!“ rief sie eifrig, in ein reines Hochdeutsch überspringend, als habe sie nur den ersten Theil seiner Antwort vernommen, und schien jetzt erst aufmerksamer die Gestalt des vor ihr Stehenden zu überfliegen, „ich möchte Sie herzlich bitten, nur eine kurze Strecke mit mir zu gehen, bis ich nicht mehr fehlen kann; ich bin schon mit Mühe nur den größten Unannehmlichkeiten aus dem Wege gegangen.“

„Kenne das, Kind!“ erwiderte der Andere, mit einem halben Lachen sich zum Gehen wendend, „solche Unannehmlichkeiten passiren eben nur nach Zwölf. Es thut mir ordentlich leid, daß Sie so hübsch deutsch sprechen können!“

„Noch einen einzigen Augenblick,“ rief die Fremde, welcher plötzlich der Sinn der erhaltenen Antworten klar geworden zu sein schien, während es sichtlich wie ein nervöses Zittern ihren Körper überlief, „ist nicht eine Frau hier unten?“

„Eine Frau?“ erwiderte der junge Mann, sich, wie von ihrem Tone betroffen, zurückwendend und nochmals ihre ganze Erscheinung musternd, die trotz ihrer Einfachheit eine tadellose Eleganz zeigte, „eine Frau ist nicht hier, aber wollen Sie mir wohl sagen, was Sie so spät auf der Straße zu thun gehabt? – es ist kaum eine Zeit zum gemüthlichen Spazierengehen!“

„Mein Gott,“ erwiderte Jene, als dränge sie gewaltsam einen Thränenstrom zurück, und schlug den Rest ihres Schleiers bei Seite, „ich bin vor einer Viertel- oder einer halben Stunde, ich weiß es selbst kaum mehr, mit dem Dampfboote angekommen und habe den Gepäckmann, der mich nach dem Unionhotel führen sollte, in der Dunkelheit verloren; nachher ist mir von mehreren Männern der Weg vertreten worden, ich habe mich in eine Nebenstraße geflüchtet und geglaubt, irgendwo einen Schutz zu finden, die Menschen haben aber meine Spur nicht verlassen, bis ich alle Richtung verloren –“ sie hielt inne, als wolle die Erinnerung ihre Fassung überwältigen.

Der Mann warf einen prüfenden Blick in das schwarzumrahmte bleiche Gesicht, in welchem die innere Erregung noch im Kampfe mit der äußern Controle zuckte, und trat einen halben Schritt näher. „Well, Miß, so habe ich wohl eine Dummheit gemacht, und nichts für ungut!“ sagte er zögernd, „bei der Nacht hat sich aber der Mensch vor Fledermäusen zu hüten! – Unionhotel!“ setzte er hinzu, mit der Hand unter seinen grauen Filzhut fahrend, „wenn Gott nicht besser weiß, als ich, wo es ist, so sieht es schlimm mit ihm aus, und nebenbei,“ fuhr er fort, einen plötzlich niedergefallenen Regentropfen von der Hand schleudernd, „wird’s keine fünf Minuten dauern, so bekommen wir ein Bad ohne Bestellung, wenn wir bis dahin nicht ein Unterkommen für Sie finden können. Gleich um die zweite Ecke von hier ist etwas wie ein Hotel, freilich nicht sehr vornehm; ich denke aber, es wird Ihnen wenigstens ein reinliches Nachtquartier geben.“

„Aber mein ganzes Gepäck ist nach dem Unionhotel gegangen!“ unterbrach sie ihn unschlüssig.

„Nun, morgen giebt es hoffentlich noch einmal einen Tag, [674] daß sich danach sehen läßt – wir haben jetzt kaum eine Wahl, Miß!“ erwiderte er, mit der Hand die häufiger fallenden Regentropfen auffangend; sie blickte einen Moment mit sich im Kampfe zuerst die öde Straße hinab, dann auf den jungen Mann vor ihr und sagte, wie in einem kurzgefaßten Entschlusse den leichten Ueberwurf dichter um die Achseln ziehend:

„So lassen Sie uns gehen, Sie werden mich sicher nur dahin führen, wo ein anständiges Mädchen bleiben kann!“

Er nickte nur und schritt, ihr zwei Fußlängen voran, eilig die Straße hinauf. Erst an der angedeuteten zweiten Ecke blieb er, wie von einem Gedanken berührt, stehen. „Sie sind ganz allein angekommen?“ fragte er, sich nach ihr umblickend.

„Ich habe Freunde einige Meilen im Lande, die ich morgen früh aufsuchen will?“ erwiderte sie, er aber schüttelte kurz den Kopf.

„Ich frug wegen etwas Anderem, es muß aber auch so gehen! “ brummte er und schritt einem der räucherigen Häuser in der Seitenstraße zu, dort die Klingel ziehend. Erst nach einer Weile öffnete sich langsam die Thür, und mit einem Wink zum Folgen gegen seine Begleiterin trat er ein. In der schmalen Hausflur stand, eine trübe brennende Lampe in der Hand, ein Dienstmädchen, das sich sichtlich erst dem Schlafe entrissen und verwundert den Kopf hob, als die elegante weibliche Gestalt hinter dem jungen Mann hervortrat. „Hier ist eine Lady, Susy, die ein Bett für diese Nacht braucht,“ begann der Letztere, aber ein eifriges: „Wir dürfen Nachts keine einzelnen Frauenzimmer aufnehmen, sie kann nicht hierbleiben!“ schnitt seine Rede ab, und damit schien auch die Müdigkeit der Thürhüterin völlig verschwunden, deren Augen sich jetzt groß auf jede Einzelnheit in der Erscheinung der Fremden zu heften begannen.

„Weiß Alles, Susy, hier aber steh’ ich gut für die Lady, verstanden? “

„Kann nichts helfen, Mr. Reinert, Madam hat’s verboten, und ich nehme sie nicht auf.“

„Kann nichts helfen, wenn ich gut stehe?“ rief der Mann in einem Tone, in welchem sich Humor und Aerger mit einander stritten, „dann hätte freilich die Liebe ein Ende, und ich müßte für alle Zukunft sehen, ob mein Wort anderwärts nicht etwas gilt. Jetzt brennen Sie ein Licht an und bringen die Lady nach einem Zimmer mit einem ordentlichen Bett, oder Sie wecken Madam, daß die Ihnen ein Licht aufsteckt, wie man anständige Leute behandelt! So steht’s, Susy!“

Die Fremde war mit bleichem, regungslosem Gesichte der Verhandlung gefolgt und trat jetzt mit gehobenem Kopfe heran. „Sie können mir ruhig ein Unterkommen für die Nacht geben, Kind; ich werde morgen Ihre Madam selbst sprechen,“ sagte sie mit der eigenthümlichen, sichern Gehaltenheit, welche die Frauen der höhern Stände im Verkehr mit niederer Stehenden kennzeichnet, „übrigens sollen Sie sich nicht umsonst noch in später Nacht Mühe machen!“ und nach einem langen, zweifelhaften Blicke, bald über die ganze Erscheinung der Herangetretenen bald in das Gesicht des jungen Mannes, störte die Widerspenstige endlich den Docht ihrer Lampe auf, um zögernd aus dem Hintergrunde der Hausflur zwei Leuchter, jeden mit einem Stümpfchen Licht versehen, herbeizuholen, es ungewiß lassend, ob die Aeußerungen des jungen Mannes oder das Wesen der Fremden eine Aenderung ihres Entschlusses herbeigeführt.

„Und wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen, im Fall ich Sie nicht wieder sehen sollte?“ begann die Letztere sich an ihren Helfer wendend und streckte diesem eine weiße, vom Handschuh befreite Hand entgegen, als die Thürhüterin Miene machte, die Treppe hinauf voranzugehen; „ich möchte doch wenigstens wissen, wem ich meinen Dank schuldig bin!“

„Wird kaum viel an meinem Namen gelegen sein, und jedenfalls sehe ich Sie morgen früh noch einmal wegen des Gepäcks!“ lachte der Angeredete, die dargebotene Hand kräftig schüttelnd, „indessen heiße ich Michael Reinert und habe mit einem Geschäftscollegen einen Milch- und Gemüsehandel, da wo Sie mich trafen. Wär’s nicht gerade gewesen, daß Einer von uns auf die Farmerwagen warten mußte, so wären Sie wahrscheinlich noch nicht gleich in’s Trockene gekommen!“

Die Fremde hatte das ihr angewiesene Zimmer betreten, das Dienstmädchen mit einer Gabe weggesandt und ließ jetzt mit einer Art halber Scheu die Augen über jeden Gegenstand im Zimmer gleiten. Es zeigten sich eben nur vier kahle, weiße Wände, ein breites, hochbeiniges Bett, das kaum mehr als eine Strohmatratze zu enthalten schien, ein Waschtisch mit thönernem Waschbecken und gleichen, Wasserkrug und ein Stuhl mit hölzernem Sitze. Als sie langsam ihren Hut abgelegt, schien sie ein kurzer Schauer zu überkommen, aber wie sich gewaltsam ermannend machte sie einen raschen Gang durch den kleinen Raum, schob den Riegel vor die Thür und schlug dann die wattirte Decke des Bettes zurück, als wolle sie sich von dem Zustande desselben überzeugen. Das kurze, trübe brennende Licht, das sie zur Eile zu mahnen schien, wenn sie noch im Hellen zur Ruhe kommen wollte, gab ihr wenig Hülfe für ihre Untersuchung; sie entledigte sich, wie in kurzem Entschlusse, nur ihrer äußeren Umhüllung, ihres Kleides und ihrer zierlichen Stiefeletten, und streckte sich dann, nochmals mit einem forschenden Blicke jeden Winkel des Zimmers durchlaufend, auf dem harten Lager aus. Sie hatte kaum langsam die Decke über sich gezogen, als das Licht mit einem kurzen Aufflackern erlosch und die weißen Wände nur in den einzelnen schwachen Strahlen, welche eine entfernte Straßenlaterne durch das Fenster hereinwarf, sichtbar wurden. Draußen goß der Regen nieder, und unwillkürlich verfolgte die Daliegende das Geräusch des fallenden Wassers, bis sich ihr Ohr einen ganzen Rhythmus daraus zu bilden begann und die unsichern, Lichtstreifen an den Wänden sich danach zu bewegen schienen; aber die monotonen Laute übten eine eigenthümlich beruhigende Wirkung auf ihre erregten Nerven, und ungerufen begannen vor ihrer Seele klare, bestimmte Bilder aufzutauchen.

Da war ein heller Frühlingsmorgen, an welchem sie, noch ein halbes Kind an Geist und Körper, zuerst amerikanischen Boden betreten. Sie kam über das Meer vom Todesbett einer heißgeliebten Mutter, deren letzte Worte für sie gewesen waren: „Lucy, lerne Dich fügen, und es wird Dir wohlgehen!“ Aber dieses „sich fügen lernen“ hatte sie schon so oft als Kind hören müssen und stets hatte sie dabei gefühlt, als werde ihr klarstes Recht damit unterdrückt, daß es selbst gegen die letzte Ermahnung des geliebten Mundes sich wie Opposition in ihr geregt halte. Und erst später sollte sie den Sinn der Worte völlig kennen lernen. Nun war sie mit einem Bruder ihrer Mutter, welchen die langwierige Krankheit derselben aus seiner amerikanischen Heimath über das Meer geführt, als Waise nach der neuen Welt gekommen und war in eine Familie eingetreten, in der jedes Gesicht und jedes Herz ihr fremd gegenüberstand. Und sie war kein Kind, das sich leicht anschmiegte oder durch Liebenswürdigkeit fesselte. Sie hatte ihrer Pflegemutter, die sie als eine unvermeidliche Last empfangen, versprochen, ihren Pflichten gehörig nachzukommen, und sie that dies, ohne doch damit mehr zu erreichen, als die beiden jungen Cousinen, welche sie vorgefunden, neidisch und ihre Pflegemutter sich mit jedem Tage abgeneigter zu machen. Anfänglich wohl hatte die Anerkennung ihres Verhaltens nicht ausbleiben können; als aber Lucy diese kaum wärmer als wie etwas Selbstverständliches aufzunehmen schien, als im Familienverkehr ihr gerader, eigenthümlicher Charakter sich oft störend geltend machte, während sich doch kaum ein anderer Grund als ihre Schroffheit zu einem Verweise finden ließ: da hatte sie bald selbst die laue Freundlichkeit ihrer Pflegemutter schwinden fühlen, hatte bald mehrfach Ungerechtigkeiten derselben ertragen und zuletzt sich als „daß unangenehme Ding, mit dem kaum auszukommen sei“, bezeichnen hören müssen.

Dann kam die Zeit, in welcher sie Jungfrau wurde. Sie begann sich rascher und vortheilhafter zu entwickeln als ihre Cousinen, und ein wunderbar natürlicher Takt schien das bei ihr zu vollbringen, was sonst nur eine bildende und regelnde Muttersorge schafft; ihre Bildung war nach den Ansprüchen der sie umgebenden Welt fast eine vollendete; sie hatte gewußt, daß es die Trümmer ihres elterlichen Vermögens waren, durch welche ihr die Erlangung von Kenntnissen und Fertigkeiten wurde, daß das, was sie lernte, ihr einziges Kapital für die Zukunft war, und sie hatte sich in unermüdlichem Eifer ihren Studien, die sie[WS 1] oft ihre unangenehme Stellung vergessen ließen, hingegeben; jetzt aber wollte es ihr oft scheinen, als betrachte ihre Pflegemutter ihre ganze Persönlichkeit nur als ein Hinderniß, ihre eigenen Töchter in das rechte Licht zu setzen; wo sie früher nur auf Kälte und Vernachlässigung getroffen, da meinte sie jetzt absichtlichen Demüthigungen zu begegnen, sie glaubte bei einzelnen Gelegenheiten in dem Auge ihres Pflegevaters zu lesen, daß er das ihr angethane Unrecht empfinde, aber es nicht wage, ihre Partei zum Nachtheil seiner eigenen Töchter zu nehmen, und die Ueberzeugung begann von einem Tage zum andern mehr [675] Platz in ihr zu greifen, daß für lange nicht mehr ihren Bleibens in der Familie sein könne, wenn sie sich nicht innerlich aufreiben wolle, daß sie freiwillig gehen müsse, wenn sie nicht einmal durch den Ausbruch ihrer verwundeten Seele unvorbereitet dazu gezwungen werden solle. Wohin aber in dieser unbekannten Welt, war ihr so lange unklar, bis ihr eines Tags bei einem Blick in die Zeitung die Ankündigung einer offenen Stelle für eine Erzieherin in einer Familie der südlichen Grenzstaaten vor die Augen kam.

Schon zwei Stunden darauf war ein Brief von ihr an die bezeichnete Adresse abgegangen. Sie dachte nicht daran, daß Empfehlungen und Zeugnisse für ein derartiges Unterkommen nothwendig seien; sie hatte, wie die Erregung des Augenblicks es ihr eingegeben, ihre Lage kurz geschildert und ihre Kenntnisse aufgezählt, und erst bei ruhigerem Blute wollten Bedenken in ihr aufsteigen, ob sie nicht zu voreilig gehandelt, ob sie sich nicht mit ihrer Offenheit, völlig fremden Menschen gegenüber, der Lächerlichkeit preisgegeben. Und zugleich, wenn sie an die Möglichkeit einer Annahme ihres Anerbietens dachte, überkam sie ein Zagen vor den neuen unbekannten Verhältnissen, vor dem ungewohnten Wirkungskreise, dem sie vielleicht nicht einmal gewachsen – diese Regung schwand indessen, je mehr sie sich zwang, das, was sie im schlimmsten Falle treffen und von ihr gefordert werden könne, klar vor die Augen zu stellen, und zuletzt blieb ihr nur noch die Sorge, vielleicht ganz ohne Antwort gelassen zu werden. Aber eine Antwort kam, schneller als sie gehofft; mit einem verwunderten Blicke auf das Postzeichen legte ihr Pflegevater das geschlossene Convert in ihre Hand, und mühsam ihre Erregung verbergend, suchte sie ihr Zimmer. Es war eine sonderbar lakonische Antwort. Wenn sie den Muth in sich fühle, einen Versuch bei ihrer mangelnden Erfahrung, selbst auf die Gefahr des Mißlingens hin, zu machen, so möge sie kommen, hieß es, und eine Banknote im ungefähren Betrage des Reisegeldes war beifügt. Nur einige Secunden lang stand sie mit ihrem letzten Entschlusse kämpfend, dann ging sie zu ihrem Pflegevater.

Schon am nächsten Tage hatte sie ihre Heimath im Rücken. Ihr bisheriger Schützer hatte nur wenige schwache Bedenken ihrem Plane entgegen zu setzen gehabt, und fast hatte es ihr scheinen wollen, als fühle er sich mit ihrem Gehen einer stillen Last enthoben. Indessen hatte er ihr beim Abschiede eine Hundertdollarnote in die Hand gedrückt und ihr gesagt, sie möge, falls sie in Verlegenheit gerathe, nie vergessen, wo ihre zweiten Eltern wohnten; ihre Pflegemutter aber hatte sich über eine augenblickliche Betroffenheit, welche sie bei der Ankündigung von dem Entschlusse des Mädchens überkommen, leicht hinweggeholfen und gemeint, einige Zeit unter fremden Leuten werde nur heilsam auf Lucy’s Charakter einwirken. Ihren beiden Cousinen war es bei der Nachricht von ihrer bevorstehenden Abreise sichtlich leicht geworden, und so hatte sie ihren eigenen Weg zur Bildung ihrer Zukunft angetreten, hatte einen wunderbaren Muth in dem Gedanken, sich jetzt frei und selbstständig bewegen zu können, gefunden, zugleich aber sich vorgenommen, jeden Cent ihres Geldes zu Rathe zu halten, um im Falle des „mißlungenen Versuchs“ welcher ihr in Aussicht gestellt worden, nicht in die Nothwendigkeit versetzt zu werden, vor Erlangung eines andern Unterkommens in ihre bisherige Heimath zurückkehren zu müssen – und so war sie mit dem Dampfboote in der großen Stadt, kaum einige Meilen von ihrem Bestimmungsorte, am späten Abend angelangt. Sie hatte, um Kosten zu ersparen, ein ihr bezeichnetes Hotel zu Fuße erreichen wollen, war aber schon bei den ersten Schritten auf dem Boden ihrer neuen Selbstständigkeit in Verlegenheiten gerathen, die sie in ihrer geschützten Stellung bis jetzt kaum geahnt, und es hatte zuletzt des kräftigsten Aufraffens ihres Muthes bedurft, um das Vertrauen auf sich und eine erträgliche Zukunft wieder zu gewinnen.

Draußen schlug der Regen noch immer auf das Pflaster, bald einen Marsch trommelnd, bald mit dem herbeieilenden Winde eine Galoppade versuchend, und sobald der Schlummer sich auf die Augen des ermüdeten Mädchens senken wollte, schreckten ihn unheimlich auftauchende Traumgestalten wieder hinweg. Erst nach geraumer Zeit nahm sich endlich die körperliche Erschlaffung ihr Recht und legte über sie den tiefen, traumlosen Schlaf der kräftigen Jugend.

Ein heller Morgen weckte die Ruhende, und mit den jungen Sonnenstrahlen war auch ihr Muth in voller Frische wieder erwacht. Das kahle Zimmer um sie erweckte jetzt mehr ihr Interesse als das gestrige Gefühl der Unheimlichkeit – sie hatte noch nie in das Innere eines dieser zahlreichen Kosthäuser für die junge arbeitende Bevölkerung gesehen, und ohne besonderen Widerwillen machte sie Gebrauch von den für ihre kurze Toilette vorhandenen Geräthschaften. Als sie endlich die Treppe hinab schritt, um die nöthigen Maßregeln zu einem baldigen Verlassen des Hauses zu treffen, blickte ihr aus der Hausflur bereits ihr Koffer nebst ihrer Reisetasche entgegen, in der offenen Thür nach der Straße aber stand ihr gestriger Helfer im Gespräche mit einer frischen, sauber gekleideten Frau und hob mit einem jovialen Schmunzeln die Augen nach ihr.

„Ich habe schon für die beste Legitimation gesorgt,“ sagte er auf das Gepäck deutend, „sie hier ist wie ein grimmiger Wolf in gewissen Dingen, ich aber vor Allen wäre halb zerrissen worden, wenn nicht Alles sauber gewesen!“

Die Frau sah mit einer Kopfbewegung voll launiger Drohung nach dem Sprecher und kam dann ihrem Gaste entgegen. „Sie werden es nicht gefunden haben, wie Sie es gewohnt sind, Miß, und auch nicht so aufgenommen worden sein, man kann sich hier aber nicht genug vorsehen,“ sagte sie, die Thür zu dem nächsten Zimmer öffnend. „Wollen Sie jetzt hier herein treten und sagen, was Ihre Wünsche sind, so brauchen Sie nicht erst noch einmal ein anderes Hotel aufzusuchen!“

Eine halbe Stunde darauf hatte Lucy von ihrem Zufluchtorte Abschied genommen, hatte dem „Milch- und Gemüsehändler“, der ihr lachend Vorsicht für die Zukunft empfohlen, da sie nicht immer einen so ehrlichen Kerl auf ihrem Wege treffen würde, den Wunsch ausgedrückt, ihm den geleisteten Dienst einmal vergelten zu können, und rollte in einem gemietheten Wagen der Farm entgegen, welche in glücklichem Falle ihre neue Heimath werden sollte. Der Kutscher hatte wohl gemeint, den „angegebenen Platz“ zu kennen; auf ihre vorsichtig gethanen Fragen nach der Familie aber halte sie von keiner Seite Auskunft erhalten können und unwillkürlich prüfte sie sich jetzt, ob sie im Stande sein werde, auch weniger angenehme Verhältnisse dauernd zu ertragen. „Lerne Dich fügen!“ klangen ihr die Worte ihrer Mutter wieder in´s Ohr, und sie glaubte dies unter fremden Menschen eher ermöglichen zu können, glaubte in einer bestimmt bezeichneten Stellung eher ihre Genugthuung, selbst unter schwierigen Verhältnissen, zu sinken, als unter Leuten, welche sie die Ihren nennen sollte und die es doch niemals gewesen waren.

Eine Stunde lang mochte sie unter den verschiedenartigsten Bildern, welche sie sich von dem sie erwartenden Orte zu machen gesucht, gefahren sein, als der Kutscher plötzlich die Pferde anhielt und um sich blickte. „Der Platz muß jedenfalls hier herum sein, und ich kann nicht begreifen, daß ich nirgends ein Anzeichen sehe!“ sagte er, während er von Neuem die ganze Umgebung durchspähte.

Lucy wandte zum ersten Male mit Bewußtsein ihr Auge der Landschaft zu. Rechts von der schmalen Straße erstreckten sich weite eingezäunte Felder ohne irgend eine Spur eines Wohnhauses, links zog sich aus einem rasigen Abhange niedriges Gebüsch hin, das in kurzer Entfernung von dem Wagen wieder an endlose Felder schloß.

Mit einem Kopfschütteln stieg der Kutscher ab, band die Pferde an die nächste Einzäunung und wandte sich rückwärts, um sich zu orientiren; das Mädchen aber saß noch nicht lange allein, als sie am Ende des Gebüsches eine Männergestalt, sichtlich mit irgend einem Gegenstande beschäftigt, auftauchen und zwei Negerköpfe ihr folgen sah. Ohne langes Bedenken verließ sie den Wagen, um selbst die nöthigen Erkundigungen einzuziehen, und stand nach wenigen Secunden vor einem hohen Manne in farmermäßigem Sommeranzuge, mit breitem Filzhute über einem von schwarzem Bartwuchse eingerahmten, kaum mehr jugendlichen Gesichte, das sich in einer eigenthümlichen Aufmerksamkeit hob, als sie ihre Frage that.

„Ihr Kutscher hat eine halbe Meile von hier die falsche Straße eingeschlagen!“ sagte er, nachdem sein großes dunkeles Auge ihre ganze Erscheinung überflogen hatte; „er kann nicht fehlen, wenn er dort die Richtung links nimmt!“ und mit einer leichten Verbeugung wandte er sich wieder den beiden Negern zu; Lucy aber meinte noch niemals in ein Auge geblickt zu haben, das so wie dieses auf den Grund ihrer Seele zu dringen schien, ohne doch in seiner Schärfe etwas Verletzendes für sie zu haben. Sie sah, sich umwendend, wie der Kutscher bereits ihr Gespräch bemerkt, und bald hatte dieser mit einem: „So ist es, wenn man seine geraden Straßen gewohnt ist!“ die Pferde wieder zurück gewandt.

[676] Ein zweistöckiges, aus gebrannten Steinen erbautes Landhaus, mit einer zierlichen Veranda versehen, tauchte nach kurzer Fahrt am Ende eines mit wohlgepflegten Schattenbäumen besetzten Rasenplatzes auf. „Das ist der Ort!“ sagte der Kutscher, und mit hellem Blicke überflogen die Augen des Mädchens das Haus wie die sauber gehaltenen Umgebungen. Nach dem Eindrucke, welchen das Gesammtbild auf sie hervorrief, meinte sie, es müßten sehr schlimme Verhältnisse kommen, wenn sie hier nicht nach ein oder der andern Seite hin eine Befriedigung finden sollte. Ein wohlerhaltener Fahrweg führte in einer Kreiswindung nach dem Eingange des Hauses, und schon in halber Entfernung sah sie dort eine den Wagen erwartende Gestalt in der Veranda erscheinen, fast berührte es sie aber wie ein leichter Schreck, als ihr beim Halten dieselbe Persönlichkeit, welche sie kaum erst auf dem Felde getroffen, langsam entgegenkam und ihr dasselbe durchdringende Auge wie dort begegnete. „Miß Lucy Hast wahrscheinlich!“ sagte der Herantretende, ihr leicht die Hand zum Aussteigen bietend, „und so erlauben Sie,“ fuhr er auf ihre bejahende Verneigung fort, „daß ich mich Ihnen gleich selbst als Major Wood, den Beantworter Ihrer Offerte nenne.“ Er wandte sich, während der Kutscher den Koffer ablud, nach dem Hause und zog kräftig die Thürklingel. „Hierher, Flora!“ rief er, als im Hintergrunde der das Haus durchschneidenden „Halle“ sich das Gesicht einer alten Mulattin zeigte, „die Lady hier wird das neueingerichtete Zimmer im obern Stock bewohnen, und Du sorgst pünktlich für ihre Bedienung, siehst auch jetzt sogleich auf Unterbringung des Gepäcks.“

Dann aber drehte er sich mit einem: „Wenn Sie mir nachher einen Augenblick folgen wollen, Miß –“ dem Mädchen wieder zu, welches so eben den Kutscher ablohnte, und schritt ohne weitere Ceremonie nach dem Innern des Hauses voran. Es lag eine Unumwundenheit und Bestimmtheit in seinem Auftreten, die von den gewöhnlichen Höflichkeitsformen kaum viel zu wissen schien, und Lucy fragte sich unwillkürlich, ob dies die allgemeine Weise eines Mannes sein könne, der seiner Sprache und Bewegung, seiner weißen, geschonten Hand und dem sauber bekleideten kleinen Fuße nach zur modernen Welt gehören mußte, oder ob dieser Ton nur ihrer künftigen Stellung in seinem Hause gelte? demohngeachtet fühlte sie sich dadurch schnell über die leichte Befangenheit, welche meist der erste Eintritt in neue, unbekannte Verhältnisse erregt, hinweggehoben und dieser Geradheit gegenüber eine eigenthümliche Sicherheit in sich erwachen. Mit einem freundlichen Nicken gegen die Dienerin, deren gelbes Gesicht in wohlgefälligem, halb verlegenem Grinsen zu der neuen Erscheinung aufsah, folgte sie rasch dem Vorangegangenen und trat eben in das von diesem geöffnete Zimmer, als er sie dort mit einem leichten: „Miß Hast ist angekommen, die Erzieherin, von welcher ich bereits gesprochen!“ anzukündigen schien, sich aber beim Rauschen ihres Kleides rasch nach ihr umwandte. „O, Sie haben Ihr Geschäft bereits abgethan, very well!“ sagte er, und Lucy fühlte wieder diesen Blick voll eigenthümlicher Beobachtung auf sich ruhen. „Hier ist Mrs. Lowell, meine Schwester, welche an der Stelle meiner verstorbenen Frau meinem Hauswesen vorsteht,“ fuhr er dann fort, nach einer ältlichen Dame deutend, die steif in einen Lehnstuhl zurückgelehnt, der Eingetretenen das Gesicht langsam zudrehte; „Sie wollen sich mit ihr verständigen, und später sehe ich Sie dann selbst wieder!“

Das Mädchen trat der Dasitzenden entgegen, während das Klappen der Thür die Entfernung des Hausherrn andeutete, wartete aber umsonst auf ein Begrüßungswort. Kalt ruhte das graue Auge der Dame auf der Nahenden, und nur wie der Nothwendigkeit nachgebend, deutete sie auf einen unweit befindlichen Stuhl. „Die Erzieherin – so?“ begann sie, ohne den steifen Ausdruck ihres Gesichts zu ändern, „es ist das erste Wort, was ich davon höre, wenn er auch sagt, er habe davon gesprochen. Er kann natürlich thun und lassen, was er will, aber er soll dann die Leute mir nicht auf den Hals schicken. Ueberhaupt sehe ich nicht ein, wozu eine Erzieherin nothwendig ist, wo es so viele ausgezeichnete Institute giebt – das ist aber einmal wieder eine von den Ideen des Majors, die kein anderer Mensch hat!“ Sie schüttelte kurz den Kopf und blickte nach dem Fenster.

Lucy war einen Schatten blässer geworden. „Ich weiß kaum, wie ich Ihre Worte deuten soll, Ma’am,“ sagte sie nach einer augenblicklichen Pause, sichtlich eine aufsteigende Erregung niederkämpfend, „und Sie setzen mich dadurch in eine eigenthümliche Lage. Ich bin einer bestimmten Aufforderung, mich hier einzufinden, gefolgt und hatte natürlich darauf gerechnet, mich der Dame des Hauses anschließen zu dürfen; meinerseits hätte es sicher an nichts fehlen sollen, mich einer erwiesenen Freundlichkeit werth zu zeigen, und vielleicht können Sie sich vorstellen, wie weh es einem jungen Mädchen, das zum ersten Male unter Fremde tritt, thun muß –“

Eine Handbewegung der alten Dame unterbrach die Sprecherin. „Ich will Niemand wehe thun, ich möchte nicht, daß so etwas von mir gesagt würde, ich spreche nur meine Ansichten aus, die ich wohl eben so gut haben darf, wie Andere,“ sagte sie, den Kopf würdevoll zurücklehnend; „ich habe vom Anfange mit Ihrer ganzen Angelegenheit nichts zu thun gehabt und möchte jetzt also am wenigsten mein Wort hinein geben – indessen, wie gesagt, will ich Niemand wehe thun, ich weiß nur von Allem, was da geschehen sein mag, nichts;“ – sie machte auf’s Neue eine Handbewegung, die kaum anders denn als ein Entlassungszeichen gedeutet werden konnte, und Lucy erhob sich zögernd von der Ecke des Stuhls, welche sie eingenommen. „Guten Morgen, Miß!“ schloß die Redende mit einer halben Kopfneigung, ein geöffnetes Buch von ihrem Schooße aufnehmend, und das Mädchen sah keine andere Wahl, als das Zimmer zu verlassen.


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Autor: Otto Ruppius
Titel: Unter Fremden
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 44, S. 689–692
Teil 2


[689]

Unter Fremden.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben
Von Otto Ruppius
(Fortsetzung.)

Vor der Thüre stand die Farbige, augenscheinlich auf sie wartend. „Ich soll Miß Hast den Weg nach ihrem Zimmer zeigen!“ sagte sie mit dem frühern freundlichen Grinsen, und Lucy folgte ihr mechanisch die mit Teppichen belegte Treppe hinauf, sah vor sich eine Thür geöffnet und trat ein, ohne sich nur recht ihrer Umgebungen bewußt zu sein; jedes Wort des eben gehabten Gesprächs hatte sich in ihrer Seele wiederholt, und erst als die Mulattin ihre Hülfsleistung anbot, entriß sie sich den erhaltenen Eindrücken. „In einer Viertelstunde, Flora!“ nickte sie der Wartenden zu, und als diese das Zimmer verlassen, warf sie einen Blick auf den sie umgebenden Raum. Ein weicher Fußteppich, ein Bett von einer türkischen Damastdecke verhüllt, eine zierliche Commode mit Toilettenspiegel, ein Schreibtisch, ein Schaukelstuhl und eine kleine Anzahl Rohrsessel bildeten eine so freundliche Ausstattung, als sie nur das Schlafzimmer einer Dame auf dem Lande zeigen mochte, zwischen den dunkeln Vorhängen der Fenster aber bot sich dem Mädchen eine weite Fernsicht über Felder, Wiesen und Wald. Langsam ließ sie sich auf dem nächsten Stuhle nieder, fast ängstlich den wohlthuenden Eindruck, welchen das heimliche Zimmer auf sie gemacht, von sich weisend. Sie sah bei ihrem ersten Schritte in die Familie Verhältnisse vor sich, die sie nicht verstand, sah die Frau, welche ihr natürlicher Halt hätte sein sollen, in einer Opposition gegen sich, welche nicht einmal die einfachste Höflichkeit für erforderlich achtete und deren Grund sie ebensowenig begriff, sah den Hausherrn ihren Eintritt mit einer Kürze behandeln, die sie in ihrer eigenthümlichen Lage sich völlig selbst zu überlassen drohte – sie war kaum eine halbe Stunde in diesem Hause und doch glaubte sie sich schon fragen zu müssen, wie hier wohl von einer Zukunft für sie die Rede sein könne – trotz ihrer eigenen ungewissen Lage, trotz der freundlichen Gedanken, welche der erste Eindruck des Hauses fast wie eine Prophezeiung in ihr hervorgerufen. Unruhig erhob sie sich und durchmaß langsam das Zimmer; noch hatte sie weder ihren Hut noch den leichten Sommermantel abgelegt, und die wiedereintretende Farbige folgte ihrem Gange mit verwundertem Blicke, bis Lucy’s Auge auf sie traf.

„Thun Sie mir wohl den Gefallen und fragen den Major, ob ich ihn auf einige Minuten sprechen könne?“ sagte das Mädchen, wie mit einem Entschlusse fertig geworden, und als die Mulattin dienstbereit das Zimmer verlassen, nahm sie einen der Sessel am Fenster ein, den Kopf in die Hand stützend. Sie wollte sich Klarheit über ihre Stellung im Hause verschaffen und sich, lieber sogleich von der Unhaltbarkeit derselben überzeugen, lieber bei Zeiten die genährten Hoffnungen aufgeben, als sich einer unsichern Heimath anvertrauen, um dann diese später mit noch unangenehmeren Erfahrungen zu verlassen. Kaum war sie indessen über das, was sie dem Hausherrn zu sagen, mit sich einig geworden, als schon Flora wieder erschien und ihr einen zusammengefalteten Zettel überreichte. Mit sonderbar gemischten Empfindungen las sie:

[690] „Betrachten Sie sich völlig als zu Hause, treffen Sie Ihre Anordnungen, wie Ihnen dieselben als nothwendig erscheinen, es ist dafür gesorgt, daß ihnen nachgekommen wird, und kehren Sie sich sonst an nichts. Später, sobald es meine Zeit erlaubt, spreche ich Sie selbst.       Wood.“

Das war genau der Mann, wie er ihr beim ersten Blick entgegen getreten war, und ungerufen stand sein durchdringendes Auge vor ihr, als wollte es sagen: Bist Du die, für welche ich Dich gehalten? und dasselbe Gefühl der Sicherheit, welches sie bei seinen ersten Worten empfunden, überkam sie wieder; nochmals überlas sie die wenigen Zeilen und dann erhob sie sich, langsam ihre Hutes und Mantels sich entledigend. Jeder Zoll im Hause war ihr noch fremd, nirgends sah sie in den Verhältnissen, wie sie sich ihr bis jetzt vor Augen gestellt, einen Leitfaden, um ein Anstoßen zu vermeiden; aber sie fühlte, daß, wo an ihre Selbstständigkeit appellirt wurde, sie nicht zurückweichen durfte. Eben wollte sie sich mit einer Frage an die harrende Dienerin wenden, als sich die Thür halb öffnete und ihr ein trotziges Knabengesicht unter reichem, wildem Haar entgegenblickte – es war dasselbe Auge, dieselbe eigenthümliche Kopfhaltung, welche soeben noch vor Lucy’s Seele gestanden, und ein warmes, eigenthümlich wohlthuendes Gefühl der Zuneigung für das kaum erblickte Kind begann plötzlich in ihrem Innern aufzusteigen. „Nun, warum denn nicht näher?“ frug sie lächelnd, als der große, dunkele Blick forschend auf ihrem Gesichte hängen blieb, und langsam trat der Knabe ein, in gerader Linie auf sie zugehend; hinter ihm aber bog sich halb neugierig, halb scheu der wirr umlockte Kopf eines kleinen Mädchens zur Thür herein.

„Pa sagt, wir sollten zu Ihnen heraufgehen, Sie würden eine neue Mama für uns sein,“ sagte der Erstere ernst und wie noch immer ihr Gesicht studirend, „aber Tante Lowell hat auch eine neue Mama sein sollen und kommt nur zu uns, wenn sie uns schlagen will – aber ich lasse mich nicht schlagen.“

„Schlagen! sehe ich denn so sehr danach aus? und wer wird denn einem so tüchtigen, kleinen Kerl etwas thun wollen, der doch gewiß gern auf Jemand hört, den er lieb hat?“ sagte sie, dem Kinde die Hand entgegenstreckend, „und ich denke doch, wir werden uns mit der Zeit recht lieb haben!“ Ein heller Strahl ging über des Knaben Gesicht, sein Auge schien ihre Züge nicht verlassen zu können, und langsam legte er seine Hand in die ihre.

„Aber noch weiß ich ja nicht einmal wie Du heißt?“ fuhr sie fort.

„Ich heiße Richard, gerade wie Vater heißt,“ erwiderte er, sichtlich lebendig werdend ; „das ist Lotty,“ setzte er hinzu, auf das Mädchen deutend, das während der Verhandlung langsam herangekommen war und jetzt mit einem hellen Ausblick ihre Hand in Lucy’s ausgestreckte Linke legte, „und Maggy ist vor der Thür und will nicht herein; Tante Lowell sagt immer, sie ist ein verdrehter Kopf, mit dem nichts anzufangen ist.“

Ein Gefühl von aufwallender Liebe, wie sie es in ihrer bisherigen Heimath niemals hatte kennen lernen, hatte sich Lucy’s Herzens bemeistert, als sie die Hände des kleinen Paares in den ihrigen gefühlt; sie erhob sich jetzt rasch und schritt, von den Kindern gefolgt, nach der Thür. Draußen stand an die Wand gedrückt eine magere, kleine Gestalt mit unordentlich gescheiteltem, kurz abgeschnittenem Haare und hob scheu den Kopf der neuen Erscheinung entgegen. Lucy hockte sich nieder zu ihr und senkte einen langen, warmen Blick in ihr Auge. „Will mir denn Maggy nicht auch Willkommen sagen und gute Freundschaft mit mir machen?“ sagte sie mit dem ganzen Wohllaut ihrer Stimme, „ich möchte ja doch so gern, daß mich auch Maggy lieb hätte! “

„O, und Miß Lucy schlägt nicht, sie hat’s gesagt – und sieht sie nicht freundlich aus, Maggy?“ rief der Knabe, als wolle er dem kleinen, furchtsamen Geschöpft, das mit verwunderten Augen in das fremde Gesicht vor sich starrte, Muth machen.

„Und sie spielt auch Piano, Pa hat’s gesagt – können Sie nicht?“ setzte Lotty hinzu, sich in voller, erwachter Traulichkeit an die Angeredete schmiegend.

„Piano – pshaw! aber Geschichten erzählen!“ rief der Knabe den Kopf wichtig hebend, „können Sie das, Miß Lucy?“

„Nun, ich werde Piano spielen und Geschichten erzählen, wenn meine Kinder mich recht lieb haben und folgen werden!“ erwiderte die Befragte, die kleine Maggy, die willenlos sich ihr hinzugeben schien. in ihre Arme nehmend und sich dann erhebend. Zum ersten Male fiel jetzt ihr Blick auf das Aeußere ihrer Pflegebefohlenen, das trotz der werthvollen Stoffe, welche zu der Kleidung verwendet worden sein mochten, völlig vernachlässigt erschien, und ein heiliges Mitleid mit dem Vater, der sicher die mangelnde Sorge für seine Kinder bitter empfunden haben mußte, ehe er sich entschlossen, zu fremder Hülfe zu greifen, überkam sie und rief den Entschluß in ihr wach, in jeder Weise zu versuchen, Mutterstelle an den ihr Anvertrauten zu vertreten.

„Wo schlafen die Kinder?“ wandte sie sich an die Farbige, welche mit einem Blick voll regen Interesses die kurze Scene zu beobachten geschienen.

„Bei der Wirthschafterin, Ma’am!“

„So führen Sie mich zu dieser, wir wollen gleich die erste Nothwendigkeit zu ordnen versuchen, ehe wir an meine Angelegenheiten denken. Möchtet Ihr Eure Betten bei mir haben, Kinder?“ wandte sie sich an diese.

„Halloh, wir schlafen bei Miß Lucy, und da werden Geschichten erzählt, bis Keins mehr ein Auge aufhalten kann!“ rief der Knabe und sprang wie in toller Freude davon; die Mulattin zog eine wunderliche Grimasse, schien etwas sagen zu wollen und es wieder zu unterdrücken und ging endlich dem Mädchen nach dem hintern Theile des Hauses voran, wo zwei Schwarze in der Küche hantirten, während sich in einer daranstoßenden geöffneten Vorrathskammer die untersetzte Gestalt einer Weißen beschäftigt zeigte. Lucy, von ihrer Führerin bedeutet, wandte sich der Letzteren zu, kaum schien dieselbe aber von ihrer Erscheinung Notiz zu nehmen, und die Weise, in welcher sie nach kurzem Aufblicken der Eingetretenen den Rücken zeigte, drängte dieser unwillkürlich den Gedanken an eine absichtliche Unart auf.

„Sie sind die Wirthschafterin?“ fragte sie mit voller Höflichkeit im Tone, „ich muß mich Ihnen schon selbst als neue Hausgenossin vorstellen und komme dabei gleich mit einer Bitte!“

Die Angeredete wandte wie in einer unvermeidlichen Nothwendigkeit den Kopf und zeigte ein Gesicht voll harten, unangenehmen Ausdrucks, das während des kurzen Blicks über das Aeußere der Sprecherin nur noch unfreundlicher zu werden schien. „Ich bin allerdings die Wirthschafterin!“ sagte sie kurz und machte damit eine halbe Bewegung sich wieder wegzudrehen.

„Und ich bin die Erzieherin der Kinder hier, die ich gern völlig bei mir haben möchte,“ erwiderte Lucy, ihren bisherigen Ton beibehaltend, aber mit einem Blick voll ernster Sicherheit dem Auge der Frau begegnend. „Sie würden mich sehr mit der Angabe verbinden, ob neben meiner Wohnung sich noch ein dispenibler Raum befindet, der zu ihrer Schlafstube dienen könnte; im andern Falle würde ich auch wohl in meinem Zimmer Raum finden.“

„Ich glaube nicht, daß die jetzige Ordnung geändert werden wird,“ erwiderte die Erstere kalt, sich ihrer bisherigen Beschäftigung wieder zudrehend. „Mrs. Lowell hat die Kinder unter meine Obhut während der Nacht gegeben, und da werden sie bleiben, bis Mrs. Lowell selbst mir andere Befehle giebt.“

In dem Innern des Mädchens stieg es plötzlich wie die Ahnung eines bereits gegen sie fertig gemachten Complots auf; kaum war es sonst möglich, bei ihrem ersten Eintritte in das Haus auf eine so bestimmt ausgeprägte, wiederholte Unfreundlichkeit zu treffen; und wenn sie auch keine Ahnung von den Gründen hatte, die jedenfalls in den häuslichen Verhältnissen lagen, so fragte sie sich doch, ob nicht der Einfluß des vereinigten weiblichen Commando’s stärker sein würde als die Macht des Hausherrn, der die wenigste Zeit zu haben schien, sich um seine häuslichen Angelegenheiten zu bekümmern. Kaum zwei Secunden Zeit mochten indessen die sich in ihr drängenden Gedanken genommen haben, und in gleicher Zeit hatte sie auch eingesehen, daß sie nur durch ein, völlige äußere Ruhe und Gehaltenheit ihre Würde bewahren könne.

„Es hätte mich gefreut, Ma’am,“ sagte sie, mit ihrer ganzen Kraft jedes äußere Zeichen einer Erregung unterdrückend, „wenn Sie mit derselben Freundlichkeit, die mich zu Ihnen führte, auf eine gegenseitige Besprechung eingegangen waren; so muß ich Ihnen überlassen, was Sie thun wollen, und bitte Sie nur zu bemerken, daß ich Sie nochmals ersuche, Anstalten für die Uebersiedelung der Kinder in meine unmittelbare Nähe zu treffen.“ Und die kleine Maggy aufnehmend, welche sich ängstlich an ihrem Kleide festgehalten, wandte sie sich gedankenvoll nach ihrem Zimmer zurück, wo noch immer Koffer und Reisetasche des Auspackens harrten.

„Ich wußte, daß sie Ihnen nicht zu Willen sein würde,“ sagte die alte Flora halblaut, ihr in das Zimmer folgend und die Thür vorsichtig schließend, „es ist schon zwei oder drei Tage bekannt, [691] daß Sie kommen würden, und sie hat ein Gesicht dazu geschnitten, als stecke ihr ein Knochen im Halse. Sie commandirt im Hause, Mrs. Lowell thut nur, was sie will, und selbst der Major mag oft nicht zu ihr reden, wenn sie ihr grimmiges Gesicht vorgenommen hat – es sind da auch noch andere Sachen, über die ich aber nicht reden mag,“ setzte sie hinzu, während es in ihrem Gesichte zuckte, als unterdrücke sie eine aufsteigende schmerzliche Empfindung.

Lucy hatte aufgehorcht, setzte dann das Kind auf ihrem Arme in den Schaukelstuhl und blickte einige Secunden wie im scharfen Nachdenken durch das Fenster über die weite Landschaft. „Wir wollen auspacken,“ sagte sie endlich, sich, wie zu einem bestimmten Entschlusse gelangt, zurückwendend, „und ich hoffe, Flora, daß wenigstens Sie keine Partei gegen mich nehmen, wo ich kaum erst den Fuß in’s Haus gesetzt und sicher noch Niemand beleidigt haben kann!“ Sie hatte der Mulattin die Hand entgegengestreckt, welche diese fast mit einem Ausdruck von Inbrunst ergriff. „O Ma’am,“ rief die letztere mit halbunterdrückter Stimme, „ich habe Ihr Gesicht gesegnet, als ich es zum ersten Male sah, ich habe Ihren Fußtritt gesegnet, als er zuerst im Hause klang – Sie wissen noch nichts, aber Sie erfahren vielleicht mehr – Flora wird Ihnen treu sein, wie der Stengel der Blume, der noch lange trauert, wenn sie schon von ihm gegangen!“

Nur für einen Augenblick beschäftigte der eigenthümliche Ausbruch die Seele des Mädchen-, dann wandte sich ihre Aufmerksamkeit wieder der nächsten Gegenwart zu. Sie war entschlossen, den Verlauf der Dinge ruhig abzuwarten, sie konnte kaum anders nach den Zeilen des Hausherrn, wenn sich auch dessen Worte: „Es ist dafür gesorgt, daß Ihren Anordnungen nachgekommen wird,“ kaum zu bewähren schienen, und ein eigenthümliches Interesse wurde in ihr rege, wenn sie an den klaren, bestimmten Blick des Mannes dachte, zu sehen, ob er seinen Willen durchführen, oder diesen dem augenblicklichen häuslichen Frieden opfern werde. An sich selbst dachte sie in dem letzten Falle kaum; noch halte der Gedanke, hier eine Heimath zu finden, nicht einmal in ihr Wurzel geschlagen.

Wohl eine halbe Stunde mochte mit dem Einräumen der Kleider, Wäsche und der mannigfachen kleineren Toilettengegenstände in deren neue Behälter verstrichen sein, ohne daß dabei mehr als ein zeitweiliges bewunderndes Murmeln der alten Mulattin laut geworden wäre, als plötzlich eine bis dahin verschlossen gewesene Seitenthür des Zimmers mit einem Geräusch aufsprang, daß das Kind im Schaukelstuhle mit einem nervösen Schrei in die Höhe fuhr und selbst Lucy mit einem leichten Schrecken sich umblickte.

Herein kam die Wirthschafterin, von einem Schwarzen gefolgt, sah mit grimmigen Blicken im Zimmer umher, ohne scheinbar von dessen Bewohnerin Notiz zu nehmen, und begann dann die einzelnen Stücke des dastehenden Bettes auf den Boden zu werfen.

Ein einziger Blick in das geöffnete Nebenzimmer, in welchem sich die verschiedenen Theile mehrerer Bettstellen sowie ein Haufen von Matratzen und Decken befand, hatte Lucy belehrt, daß ihrem Wunsche auf irgend eine Weise Geltung verschafft worden war, und erklärte ihr zugleich das Wesen der Eingedrungenen; als diese aber einige in ihrem Wege stehende Sessel mit dem Fuße bei Seite stieß, richtete sich das Mädchen von ihrer Beschäftigung auf und sagte mit der vollen ernsten Haltung, welche ihr zu Gebote stand: „Ich muß Sie ein für allemal bitten, Ma’am, hier den nöthigen Anstand zu bewahren, Sie sind in dem Zimmer einer Lady, das Sie nicht einmal betreten sollten, ohne um Erlaubniß gebeten zu haben!“ aber nur ein kurzer höhnischer Laut, dem das neue Wegstoßen eines Möbels folgte, ward ihr als Antwort, und die ganze Erregung, welche sie bisher gewaltsam unterdrückt, brach sich in ihr Bahn. „Entweder, Ma’am, finde ich die Achtung, welche ich fordern kann,“ rief sie mit zitternder Stimme, „oder ich bitte noch in diesem Augenblick Major Wood um die Erlaubniß, sein Haus verlassen zu dürfen!“

Da wandte sich die Wirthschafterin nach ihr, und ein böser Zug glitt über ihr Gesicht: „Sie sollen die Achtung haben, welche Sie verdienen, Miß, verlassen Sie sich daraus,“ erwiderte sie, „und wenn ich das Haus eher verlasse, als Sie, so mögen Sie das auch zu derselben Achtung schreiben!“ Damit wandte sie sich an den Schwarzen, diesem einzelne Andeutungen für seine Arbeit gebend, und verließ dann mit hochaufgerichtetem Kopfe das Zimmer. Fast meinte Lucy einen versteckten Sinn in der Entgegnung der Frau suchen zu müssen; als aber Flora hinter ihr murmelte: „Das schmeckt ihr freilich nicht, und so hat’s ihr noch Keins gesagt!“ und der Schwarze mit einer Art bewundernden Grinsens das Gesicht nach ihr hob, glaubte sie die gehörten Worte nur dem Einflusse des Aergers zuschreiben zu müssen und bog sich wieder ruhig nach ihrer früheren Beschäftigung nieder. –

Am Abend desselben Tags war die Nebenstube von Lucy’s Zimmer zum Schlafzimmer für sie und die Kinder eingerichtet, und diese lagen, nachdem die Aufregung über die geschehene Umsiedelung durch eine lange Geschichte ihrer neuen Freundin beseitigt worden, bereits im tiefen Schlummer; das Mädchen aber saß im Dunkeln am offenen Fenster, in die sternenklare Nacht hinausblickend und überdachte ihre Lage. Sie hatte nach dem Auftritte mit der Wirthschafterin weder diese noch die „stellvertretende“ Dame des Hauses wieder zu sehen bekommen; sie war mit den Kindern, die nicht wieder von ihr gewichen, zu einem Mittagsmahle hinabgerufen worden, das für sie und ihre Pfleglinge allein im Speisezimmer servirt war, das aber kaum karger hätte ausfallen können, so daß die aufwartende Flora nur durch Lucy’s Ruhe von einer lauten Aeußerung ihrer Entrüstung abgehalten worden zu sein schien; am Nachmittage hatte ihr „der Major“ sagen lassen, daß er sie am nächsten Morgen zu sprechen wünsche, und so hatte sie auch ein Abendbrod, von dem ihr, nachdem sie die Kinder befriedigt, kaum etwas übrig geblieben war, ruhig hingenommen. Sie wußte, daß sie sich heute eine erbitterte Feindin gemacht, die jetzt begann, ihre Rachsucht an ihr zu üben, so wenig sich auch Lucy die ursprüngliche Ursache dieses sonderbaren Hasses zu erklären vermochte; sie wußte aber ebenso wohl, daß ein Verhältniß in dieser Weise nicht für die Zukunft bestehen könne, wenn sie sich auch umsonst fragte, wie dies ohne ein bestimmtes, scharfes Auftreten ihrerseits, ohne ein Hereinziehen der Autorität des Hausherrn geändert werden könne – und dieser, der stets sein Mahl für sich allein nahm, schien am wenigsten mit den kleinen materiellen Dingen des häuslichen Lebens behelligt werden zu dürfen.

Während des Gedankenganges des Mädchens hatte ihr Auge mechanisch, auf einem hellen Flecken gehaftet, der wohl zwanzig Schritte entfernt sich von dem dunkeln Boden vor ihrem Fenster abschied; es schien der Lichtschein zu sein, welcher aus dem Fenster eines seitwärts liegenden kleinen Hauses fiel; plötzlich aber tauchte dort aus der Dunkelheit eine Gestalt auf, die mit augenscheinlicher Vorsicht sich dem Häuschen näherte, und Lucy erkannte auf den ersten Blick das sich deutlich abzeichnende Profil des Hausherrn. Er schien irgend einen Vorgang innerhalb des Hauses erspähen zu wollen, und das Mädchen, welches seine Bewegungen mit einem Interesse beobachtete, über das sie sich kaum selbst Rechenschaft hätte geben können, wollte sich eben fragen, was einen solchen Mann bewegen könne, seine Schritte in Heimlichkeit zu hüllen, als von dorther der Aufschrei einer weiblichen Stimme herüber klang und der Major aus dem Lichtkreise verschwand. Ein Geräusch wie das hastige Schließen eines Fensters folgte jetzt, und Lucy’s feine Ohren vernahmen nach Kurzem ein verdecktes eigenthümliches Jammern und Klagen, das, zeitweise unterbrochen, bald zu erzählen, bald zu leidenschaftlichem Bitten sich zu steigern schien, und oft lag ein solches Weh in den entfernten Tönen, daß das aufhorchende Mädchen ihr eigenes Herz darunter zittern zu fühlen meinte. Erst nach mehreren Minuten nahmen die Laute einen ruhigeren Charakter an und verschwanden endlich ganz; trotzdem aber meinte Lucy noch immer diese Klage, die wie aus dem Innern eines zertretenen Herzens gekommen zu sein schien, in ihren Ohren zu hören und seltsam gespannt sah sie dem Wiedererscheinen des Majors entgegen. Er kam nach einer langen Weile; er bog sofort aus dem Lichtscheine in’s Dunkele, aber eine starke Macht schien ihn noch einmal nach dem Fenster zurückzuziehen, er legte den Arm gegen die Wand des Häuschens und lehnte den Kopf daran – es mußte dicht am Fenster sein, denn Lucy sah sein Profil so hell erleuchtet, daß sie meinte, selbst in ihrer Entfernung jede Aenderung in seinen Zügen wahrnehmen zu können – seine Augenbrauen waren finster zusammengezogen, und um den Mund schien es wie ein tiefer, gewaltsam unterdrückter Schmerz zu lagern; so blieb er stehen, mehrere Minuten lang, den Blick in das Innere des erleuchteten Raums gerichtet; dann trat er weg, ließ den Kopf auf die Brust sinken und schritt langsam in die Dunkelheit hinein; Lucy aber behielt ihren Platz am Fenster, den Blick auf den hellen Flecken vor ihren Augen gerichtet, bis dieser erlosch; es war ihr, als habe sich soeben die einzelne Scene eines düsteren Dramas vor ihr abgespielt, dessen [692] Anfang sie nicht kannte und dessen Ende sie nicht errathen mochte; der Mann, welcher hier Herr war, der Mann mit dem festen, bestimmten Blicke, wandelte nicht, als müsse er jeden seiner Schritte verbergen, Nachts zu einem Orte der Klage, wenn dort nicht ein großer, verborgener Schmerz für ihn selbst lag, und als ihr die kalten, unfreundlichen Gesichter der beiden Frauen im Hause, die vernachlässigten Kinder und die sichtliche Abgeschlossenheit des Hausherrn vor die Seele traten, meinte sie so voll mit diesem fühlen zu können, als liege Alles, was ihn bedrücke, in völliger Klarheit vor ihr.

Noch am andern Morgen, als sie erwachte, stand das Bild des vergangenen Abends in ungeschwächter Deutlichkeit vor ihr, und unwillkürlich war sie an das Fenster getreten, um bei Tageslichte den Schauplatz zu mustern. Hinter dem Hause, wohin sich Lucy’s Zimmer öffneten, stand an der Grenze einiger einfachen Gartenanlagen ein unscheinbares kleines Gebäude, das möglicherweise zu einer Art Pavillon bestimmt gewesen, in seiner jetzigen Erscheinung und abgelegenen Stellung aber von Lucy gänzlich übersehen worden war; dennoch erhielt es durch den dicht dahinter beginnenden schattigen Obstgarten seinen Reiz, und als das Mädchen den kleinen Richard, welcher, kaum daß er ihr Bett leer bemerkt, ihr nachgefolgt war, auf den Stuhl neben sich klettern sah, sagte sie, von einer unbezwinglichen Neugierde getrieben, und doch durch eine eigene Scheu von einer directen Frage abgehalten: „Was für ein niedliches kleines Haus, mitten im Grünen! wer wohl dort wohnen mag?“

Der Knabe war mit dem Auge ihrem halben Fingerzeige gefolgt und sagte dann mit dem eigenthümlichen Ernste, welcher Lucy so sehr an seines Vaters Gesicht gemahnt: „Dort wohnt Mary!“

„Mary!“ wiederholte das Mädchen, „wer ist Mary?“

„Mary ist Mary, und Tante Lowell sagt, sie sei verrückt!“ erwiderte der kleine Befragte mit ungestörtem Ernste; durch Lucy’s Seele aber zuckte das letzte, unerwartete Wort in einer Art von Schmerzempfindung, die gehörten Klagetöne wurden plötzlich wieder in ihren Ohren lebendig, und die ganze nächtliche Scene erhielt eine noch dunklere Färbung. Es war ihr wie eine Erleichterung, als das gutmüthige Gesicht der alten Flora sich in der Thür zeigte, um nach den Kindern zu sehen und „Miss Lucy“ zu benachrichtigen, daß sie den Major in seinem Zimmer finde, sobald sie ein Gespräch mit ihm zu haben wünsche; trotzdem aber drängte es sie zugleich, sich wenigstens so viel Aufklärung zu verschaffen, als sich, ohne das zu verrathen, was sie erlauscht, thun ließ. Sie sandte den Knaben nach seinem Bett zurück, bis sie komme, um ihm beim Ankleiden zu helfen, und musterte dann vor dem Spiegel ihren Anzug. „Ich glaubte schon alle Hausgenossen zu kennen,“ begann sie leicht hingeworfen, „Richard! erwähnt da aber soeben einer Mary –“

„Hat er noch an sie gedacht? Gott segne das Kind, Gott segne es!“ erwiderte die Mulattin, wie in einem unwillkürlichen Gefühlsausbruch; dann aber begann es, als habe sie zu viel gesagt, wunderlich in ihrem Gesichte zu zucken. „Es ist Niemand Besonderes, Ma’am, durchaus nicht, Ma’am,“ fuhr sie fort, einen gewaltsamen Versuch machend, ihre rebellischen Mienen zur Ruhe zu bringen, „es ist nur meine Tochter, Ma’am, wenn sie auch so weiß ist, daß man ihr kaum das schwarze Blut noch ansieht – sie ist krank, wissen Sie, Ma’am, und so werden Sie sie wohl nicht gleich zu Gesicht bekommen –“ und noch immer zuckte es um Auge und Mund der Alten, daß Lucy sich wegwenden mußte, um nicht von deren sichtlicher Verlegenheit, so sonderbar sich diese auch ausdrückte, selbst angesteckt zu werden. Sie schnitt die Scene mit dem Auftrage an die Farbige ab, sie beim Major anzumelden, dann aber bis zu ihrer Rückkunft bei den Kindern zu bleiben, und schritt endlich, ohne sich der sonderbarsten neu aufsteigenden Gedanken über die Natur der belauschten Scene erwehren zu können, nach dem ihr bezeichneten Zimmer hinab.

Major Wood saß, eine ganz verschiedene Erscheinung von der, welche dem Mädchen auf dem Felde entgegengetreten war, in elegantem Morgenanzuge an einem Tische mit Papieren und erhob sich bei Lucy’s Eintritt, um einen Stuhl für sie herbeizuholen.

Unwillkürlich warf diese einen forschenden Blick in sein Gesicht; in tiefen zwar bleichen, aber so sicher ausgeprägten Zügen, daß sich kaum ein anderer Ausdruck darin denken ließ, deutete indessen keine Spur auf eine Erregung, wie sie Lucy am Abend zuvor darin zu sehen geglaubt, und als er das Auge auf sie richtete, dieses eigenthümliche Auge, das sich stets bis in ihr Allerinnerstes zu senken schien, meinte sie fast, die nächtliche Scene nur geträumt zu haben.

„Sie wollten mich schon gestern sprechen, Miß Hast,“ begann er leicht, als Beide einander gegenüber saßen, „und es thut mir leid, daß meine Zeit mir nicht erlaubte Ihnen zu willfahren – indessen ist ja wohl nichts dabei verloren worden!“ setzte er nachlässig hinzu, und dem Mädchen that der Ton der letzten Worte, welcher selbst die halbe Entschuldigung wieder zu beseitigen schien, fast weh.

„Sie haben jedenfalls das Recht mich zu empfangen oder abzuweisen, Sir!“ erwiderte sie und blickte zu Boden. Einige Secunden wartete sie vergebens auf die Fortsetzung seiner Rede, aber sie meinte seinen Blick auf sich ruhen zu fühlen und scheute sich aufzusehen.

„Sind Sie empfindlich, Miß?“ hörte sie endlich seine Stimme, aber ein so sonderbarer Ton klang darin, daß sie rasch das Auge hob und dem Blicke des seinigen voll begegnete.

„Vielleicht, Sir, aber wohl nur, wo ein aufrichtiges, warmes Interesse in mir verletzt wird!“ erwiderte sie ruhig, und vor dem klaren Ausdrucke ihres Blicks senkte sich einen Moment der seinige.

„So – nun, so darf ich ohne Redensarten weitersprechen!“ begann er wieder, sich leicht zurücklehnend. „Ich gestehe Ihnen, daß ich etwas von den ersten Scenen erwartete, welche Ihrem Eintritte in mein Haus folgten, daß ich mir aber die Gelegenheit nicht selbst rauben wollte, einen Blick in Ihr Wesen zu thun, der mich bei den obwaltenden Verhältnissen kaum trügen konnte, und ich ließ Sie deshalb, soweit als angänglich, auf sich selbst angewiesen. Ich gestehe Ihnen ebenso, daß ich mit einer andern Persönlichkeit wohl nicht in gleicher Weise verfahren haben würde; Ihr offenherziger Brief aber hatte mich so angesprochen, daß ich meine Kenntniß Ihres Charakters in der kürzesten Weise zu vervollständigen wünschte; und wenn Sie dies wieder beleidigen sollte, so muß ich Ihnen wenigstens sagen, daß sich dadurch unser künftiges Verhältniß, so weit es mich betrifft, schnell festgestellt hat.“ Er machte, wie eine Aeußerung erwartend, eine Pause.

„Ich kann Ihnen nur für die Offenheit danken, mit welcher Sie mir entgegen treten!“ erwiderte das Mädchen, während sie einem sonderbaren Zwiespalte in ihrem Inneren nicht zu gebieten vermochte; die ungewöhnliche Weise dieses Mannes, sein eigenthümliches Verachten aller Umschweife übten eine Art fesselnden Einflusses auf sie, dessen sie sich kaum erwehren konnte; dennoch war es ihr zugleich, als solle sie sich verletzt fühlen von dieser seltsamen Formlosigkeit, und unwillkürlich fragte sie sich, welches Wesen dieser Mann wohl einer Dame gegenüber, die nicht die Erzieherin seiner Kinder sei, annehmen werde.

Wood hatte, als wolle er sich bestimmter über den Sinn ihrer Aeußerung belehren, einen prüfenden Blick in ihr Gesicht geworfen und fuhr dann fort: „Ich will wirklich ganz offen gegen Sie sein, Miß. Ich gebe im Ganzen nicht viel auf eine Erziehung durch Frauen; sie folgen meist zu sehr den augenblicklichen Eindrücken, und wo sich durch Uebung oder Umstände eine festere Consequenz bei ihnen herausgebildet hat, ist es meist auf Kosten ihren Herzens geschehen; –Sie wollen sagen: und doch habe ich nach einer Erzieherin verlangt und Sie selbst hierher kommen lassen,“ unterbrach er sich, als Lucy eine Bewegung machte; „der Widerspruch soll Ihnen gleich erklärt werden, zuerst will ich indessen noch offener gegen Sie sein, damit Sie mich für alle Folge verstehen und Kommendem keine falsche Deutung unterlegen. Ich zähle im Allgemeinen die Gesellschaft von Frauen nicht zu meinen Bedürfnissen, so sehr ich deren Nothwendigkeit für eine geordnete Häuslichkeit anerkenne, und wenn ich den Bestand derselben in meinem Hause noch durch Ihr Engagement vermehrte, so ist es eben nur geschehen, weil meine Kinder die Stellvertretung einer treuen Mutter vermißten und ich ihnen nicht jede frühe Erinnerung an das Vaterhaus durch ihre Erziehung in einem Institute rauben wollte – um ganz ehrlich zu sprechen, würde ich selbst die Kinder in meinem Hause schwer vermissen, so wenig ich sie auch zeitweise zu Gesicht bekomme. Ich gestehe nun, daß mir die Wahl einer Dame für meine Zwecke wahrscheinlich schwer geworden wäre, wenn ich nicht Ihren Brief, der so ganz von allen andern mir zugegangenen verschieden war, erhalten hätte. Ich glaubte daraus auf ein Herz für meine Kinder schließen zu können, meinte auch darin den nöthigen Grad von gereifter Selbstständigkeit zu entdecken, und nach den Erfahrungen des gestrigen Tages denke ich um so weniger mich getäuscht zu haben. Hiermit wären wir also fertig, und es giebt nur noch eine Klippe, an der allein unsere beiderseitigen Pläne scheitern könnten.“

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Autor: Otto Ruppius
Titel: Unter Fremden
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 45, S. 705–708
Teil 3


[705] „Sie haben bereits meine Schwester, sowie die Wirthschafterin kennen gelernt,“ fuhr Major Wood nach einer Pause fort; „Beide halten Ihr Erscheinen hier für einen Eingriff in ihre Rechte, und ich bin nicht dazu gemacht, um Frauen, die in anderer Beziehung ganz ihre Stellung ausfüllen mögen, zur Raison zu bringen. Können Sie Beide vermeiden, können Sie sich hier Ihre eigene Welt schaffen, so will ich meine Maßregeln danach treffen, daß Ihnen in keiner Beziehung etwas fehlen soll, Sie dürfen nur gegen Flora deshalb Ihre Wünsche äußern – im andern Falle aber versieht es sich, daß Ihnen jeden Tag der Austritt mit Beibehaltung Ihren ersten vierteljährlichen Gehaltes offen steht. Mich selbst werden Sie wenig sehen, da mich meine Geschäfte einen großen Teil meiner Zeit vom Hause fern halten, nöthigenfalls werden Sie sich aber durch Flora stets mit mir in Rapport setzen können.“ Er hob langsam den während des letzten Theils seiner Rede leicht gesenkten Kopf nach ihr, und in seinen Augen spielte ein Ausdruck von unsicherer Erwartung, der ganz verschieden von dem gewöhnlichen Charakter seines Blicks war und dem Mädchen eine größere Anhänglichkeit des Mannes an seine Kinder, als er wohl hatte zeigen wollen, zu verrathen schien.

„Ich werde thun, Sir, was in meinen Kräften steht,“ sagte sie mit der Wärme, welche im Augenblick ihren Entschluß beseelte, „und wenn sich dennoch die Unmöglichkeit eines solchen Verhältnisses herausstellen sollte, so sein Sie versichert, daß weder mein Herz noch mein guter Wille die Schuld daran tragen werden!“

Er blickte ihr zwei Secunden wie in halber Selbstvergessenheit in’s Auge, erhob sich dann aber rasch und wandte sich nach dem Schreibtisch zurück. „Gut, Miß, ich danke Ihnen!“ sagte er kurz, dort nach einer augenscheinlich bereit gelegten Banknote greifend, „nehmen Sie hiervon Ihren vierteljährlichen Gehalt und bestreiten Sie mit dem Uebrigen die Ausgaben, welche für die Kinder nöthig werden – berechnen wollen wir uns später einmal – und nun, bitte,“ schloß er, ihr die Hand reichend und die ihre mit einem kräftigen Drucke umschließend, „senden Sie mir Flora!“

Lucy glaubte die Selbstständigkeit ihres Denkens erst ganz wieder zu erlangen, als sie ihr Zimmer betreten. Die Kinder spectakelten in der Nebenstube, sie achtete indessen, nachdem sie die Mulattin weggesandt, im augenblicklichen Drange ihrer Gedanken nicht darauf und trat an’s Fenster. Die nächste Zukunft ihres Lebens war also festgestellt; was ihr aber, dem Major gegenüber, kaum beachtenswerth erschienen, daß sie sich hier ihre eigene Welt zu bilden habe, das wollte bei einem allgemeinen Blicke über ihre Lage eine ganz veränderte Färbung annehmen; es hieß doch nur, sie zu einer völligen Abgeschlossenheit und Einsamkeit, für wie lange wußte sie nicht, verdammen. Daß die Schwester des Majors ihr niemals den Entschluß zu bleiben, niemals ihr directes Verhandeln mit dem Hausherrn und ihre einzunehmende selbstständige Stellung, welche die Autorität Jener völlig bei Seite setzte, verzeihen werde, war ihr beim ersten Blicke, welchen sie in das graue Auge dieser Frau geworfen, klar geworden; daneben hatte ihr auch ihre rasche Auffassung der Dinge gesagt, daß sich ein Einfluß auf den Major nur durch die Kinder erreichen lasse, die nun in ihrer Hand waren – durch diese Frau allein aber wäre es ihr möglich geworden, zu einem irgend passenden Umgänge aus der Nachbarschaft zu gelangen, und so wenig sie auch bis jetzt auf viel Gesellschaft gegeben, so war sie doch jung, war für den Kreis gebildeter Menschen erzogen, und eine Art Sorge, ob sie werde ausführen können, was sie versprochen, überkam sie bei dem Bilde ihres künftigen abgeschlossenen Lebens. Sie hatte indessen einmal ihr Wort gegeben, und fast war es ihr, wenn sie an die letzten Momente ihres Gesprächs mit dem eigenthümlichen Manne dachte, als würde sie es, selbst jetzt, noch einmal geben.

Draußen schien eben Richard unter dem Aufschreien der kleinen Mädchen gymnastische Uebungen anzustellen, und Lucy warf von sich, was sich drückend auf ihre Seele gelegt, mit festem Sinne dem Beginne ihrer Wirksamkeit zueilend. –

Ein eigenthümliches Leben war es jedenfalls, was sich von da ab in dem Hause gestaltete. In den ersten Tagen hatte Lucy genug zu thun gefunden, um nicht auf ihre Umgebung viel achten zu müssen; die Garderobe der Kinder war einer genauen Durchsicht unterworfen worden, und Flora hatte auf ihren kaum geäußerten Wunsch zwei nähkundige Negermädchen herbeigebracht; dann mußte an den Beginn eines regelmäßigen Unterrichts gedacht werden, der jedenfalls schon einmal versucht worden war, da sich die zum Anfange nöthigen Bücher im Hause vorfanden – schon das Wort Unterricht aber hatte die Kinder, die nicht die angenehmsten Erinnerungen daran in sich tragen mochten, völlig rebellisch gemacht, und es bedurfte der ganzen Freundlichkeit und Mühe Lucy’s, um die alten Eindrücke zu verwischen. Als aber eine sichere Regelmäßigkeit in des Mädchens Tagewerk kam, erhielt sie mehr Augen für das, was um sie her vorging. Sie schien für die beiden Frauen im Hause durchaus nicht in der Welt zu sein. Keine achtete bei den nothwendigen einzelnen Begegnungen auch nur mit einem Blicke auf sie; ihr ernster Gruß, den sie niemals unterließ, [706] ward nicht gesehen, das Zimmer im untern Stock, worin sich das ihr überwiesene Piano befand, ward auffällig gemieden, und wo die Kinder einer oder der andern der Frauen in die Hände liefen, wurden sie mit einem „Armes Ding! aufgenommen, mitleidig gestreichelt und dann mit einem Kopfschütteln entlassen. Lucy sah die Absicht sie zu kränken – durch eine Vernachlässigung ihrer Mahlzeiten schien dies nicht mehr geschehen zu können, denn ihr Tisch war schon vom zweiten Tage an reichlich und gut besetzt, und Flora hatte ihr mit einem bedeutsamen Augenzwinkern gesagt, sie möge darauf rechnen, daß es so bleibe – Lucy sah die zur Schau getragene Absicht und fühlte, daß sie sich darüber leicht werde hinwegsetzen können; sie schritt unbefangen mit den Kindern durch das Haus, wenn sie mit diesen nach den Unterrichtsstunden einen Gang in’s Freie machte; sie setzte sich Abends leichten Herzens allein an das Piano, um ihre schöne Fertigkeit nicht einschlafen zu lasten, und vergaß in der Musik für eine Weile eine Gegenwart, die kaum schmuckloser und nüchterner für sie hätte sein können, die aber bis jetzt wenigstens noch nicht zur Last für sie geworden war.

Erst am Ende der zweiten Woche sollte sie weitere Erfahrungen machen. Ausnahmsweise hatte es ein kärgliches, mißrathenes Frühstück gegeben, und Lucy schritt soeben mit den Kindern nach ihrem Zimmer hinauf, als sie Flora’s zankende Stimme in der Küche vernahm.

„Ruhig hier, wir Beide haben nichts mit einander zu verhandeln,“ hörte sie die Wirthschafterin erwidern; „hast einmal wieder für eine neue Tochter zu sorgen, Flora, und möchtest Dich um sie zerreißen; laß sie sich aber nur vorsehen, daß sie nicht als Zweite hinüber in’s Gartenhäuschen kommt!“

Es lag etwas wie stille Drohung in dem Tone der Worte, und Lucy halte unwillkürlich ihren Schritt angehalten. Kaum konnte mit der „neuen Tochter“ Jemand anders gemeint sein, als sie; was aber um Gotteswillen waren die Gedanken dieser Frau, die sie, die Fremde, mit dem Gartenhäuschen, wo die Geisteskranke sich befand, in Verbindung bringen konnte? Einen Augenblick lang trat der Abend, an welchem sie die Klagetöne dort vernommen, sammt dem unheimlichen Gefühle, das sie damals überschlichen, vor ihre Seele und fast wollte es sie überkommen, als sei sie in Verhältnisse getreten, die in ihrer Verborgenheit sich wie ein unsichtbares Netz um sie schlingen würden, bis sie rettungslos verwickelt irgend einem unbekannten Verderben Preis gegeben sei – nur einen Augenblick lang währte die Regung, dann scheuchte ihr kräftiger Geist die wirren Vorstellungen hinweg und sie sagte sich, daß dem Aerger jede Weise recht sei, um sich Luft zu machen. Sie sah Flora bleich und mit zuckendem Gesichte aus der Küche schießen und, statt ihren Weg wie gewöhnlich nach Lucy’s Zimmer zu nehmen, sich nach den hinteren Theilen des Hauses wenden, und mit einem bedauernden Kopfschütteln schritt das Mädchen weiter; oben angelangt aber konnte sie es nicht unterlassen, einen Blick hinüber nach dem kleinen Hause zu werfen. An manchem Abende hatte sie den Lichtschein, der ihr am ersten Abende aufgefallen, wieder beobachtet, aber nie mehr einen Laut von dort vernommen; deutlicher als je aber trat jetzt von Neuem das damals belauschte Bild vor sie, und als sie sich endlich abwandte, konnte sie, trotz ihres Strebens, sich von dem erhaltenen Eindrucke frei zu machen, sich einer Art innerer Beklemmung nicht ganz erwehren. Sie hieß endlich die Kinder zum Beginn des Unterrichts niedersitzen, aber so viel sie sich auch zur Aufmerksamkeit zwingen mochte, immer stiegen wieder die Worte der Wirthschafterin, in ihr auf, hörte sie den eigenthümlich drohenden Ton derselben, begann sie fast unbewußt über eine Deutung zu grübeln.

Es mochte vielleicht eine Stunde verflossen sein, und sie wollte eben ihren Schülerinnen eine Pause zur Erholung gönnen, als sich vorsichtig die Thür ihres Zimmers öffnete, ein spähendes, gutmüthiges Gesicht sich hereinschob und diesem mit einem lachenden deutschen „Da sind Sie ja endlich!“ die Gestalt einen jungen Mannes folgte. Lucy blickte einen Moment verwundert auf, im nächsten aber hatte sie trotz der veränderten Erscheinung ihren Helfer in der Noth bei ihrem nächtlichen Abenteuer in der Stadt erkannt, und ein wohlthuendes Gefühl überkam sie beim Anblick dieses ehrlichen, jovialen Gesichts. Der Angekommene schien es auf einen Besuch bei ihr abgesehen zu haben, wenigstens hatte seine frühere Arbeitstracht einem völlig modernen Anzüge Platz gemacht, und trotz der etwas derben Hände bot er eine durchaus passabele Erscheinung.

„Mr. Reinert! das ist ja eine angenehme Ueberraschung!“ rief das Mädchen sich mit aufgeklärtem Gesichte erhebend, „wer aber, um Gotteswillen, hat Sie denn hier herauf gebracht? War denn Niemand da, der mich hätte nach dem Parlor rufen können?“

„Das heißt wahrscheinlich: es ist ein Bock gegen die feine Lebensart, ohne Weiteres hier herein zu tappen,“ erwiderte der Eingetretene mit einem gutmüthigen Lachen die ihm entgegengestreckte Hand drückend, „ich bin indessen nur froh, daß ich Sie überhaupt gefunden – ’s sind curiose Leute in Ihrem Hause, wollte Sie Keins auch nur kennen, und die alte Lady sah mich an wie ein deutscher Polizeicommissär. Ich hätte wohl unverrichteter Sache wieder meiner Wege gehen können, wenn sich nicht eins von den schwarzen Gesichtern meiner erbarmt und mich hier herauf geschickt hätte!“

Lucy war bleich geworden – sie halte nicht geglaubt, daß die Opposition ihrer Gegnerinnen so weit gehen könne, und ein peinliches Gefühl ihrer schutzlosen Lage überkam sie. „Und Sie sind sicher, daß Sie richtig verstanden worden sind?“ fragte sie, sich nach einem Stuhle wendend, um die Zeichen ihrer Erregung zu verbergen.

„Hat es doch das schwarze Gesicht gethan!“ lachte der junge Mann zuversichtlich; „aber lassen Sie nur, Miß, und ärgern Sie sich nicht, wenn sonst über nichts Schlimmeres!“ setzte er gutmüthig hinzu, „ich kenne schon den amerikanischen Hochmuthteufel, der die Deutschen kaum für richtige Menschen ansehen möchte; ich hatte schon damals meine Gedanken, als ich erfuhr, daß Sie in eine amerikanische Familie gingen!“

„Setzen Sie sich, Mr. Reinert!“ sagte Lucy, kaum halb auf die Worte hörend.

„Nur eine halbe Minute, Sie haben auch zu thun!“ erwiderte er mit einem Blicke auf die Kinder, welche mit offenem Munde die fremde Erscheinung anstarrten und der fremden Sprach lauschten. „Ich komme wegen zweierlei! Sie haben ein Tuch bei uns liegen lassen,“ fuhr er fort, ein kleines Packet auf den Tisch legend, „und ich dachte oft daran, es mit heraus zu nehmen, wenn ich zum Einkaufen in die hiesige Gegend fuhr – das geschieht nun aber erst heute, wo ich noch einen andern Auftrag für Sie habe. Ich weiß nicht, ob Sie an dem Morgen, wo Sie von uns gingen, etwas gemerkt haben – nun es ist einerlei!“ sprach er mit einer launigen Kopfbewegung weiter, „und kurz heraus, meine bisherige Wirthin wird meine Frau und läßt bitten, ob Sie nicht morgen zur Hochzeit auf ein paar Stunden, oder so lange es Ihnen gefiele, mit bei uns sein wollten – sie hat Sie geradezu in’s Herz geschlossen und die ganze Zeit her von Ihnen gesprochen!“

Dem Mädchen ward es bei der schmucklosen Einladung, als überwehe sie in der eisigen Luft ihrer jetzigen Verhältnisse ein warmer Hauch, und nie glaubte sie das deutsche Gemüth mehr ausgeprägt gesehen zu haben, als jetzt in den Mienen des vor ihr Sitzenden. Sie konnte es nicht unterlassen, ihm nochmals mit einem lebhaften Drucke die Hand zu reichen, und sagte: „Ich wünsche Ihnen alles Glück, das gewiß nicht ausbleiben wird, Mr. Reinert, und ich würde mich jedenfalls einstellen, wenn meine Verhältnisse es nur einigermaßen erlaubten. Aber ist es auch nicht morgen, so komme ich sicher einmal in den nächsten Tagen – Sie haben mir wirklich eine große Freude durch Ihre Einladung gemacht.“

„Ich hab’s doch gewußt, Sie sind eine echte Lady, Zoll für Zoll, daß man Ihnen nicht einmal für die abschlägige Antwort böse sein kann,“ erwiderte der junge Mann, mit einem eigenthümlichen Gemisch von Unmuth und Herzlichkeit die dargebotene Hand schüttelnd und sich dann erhebend. „Meine Alte wird schimpfen und meinen, ich habe meine Commission nicht fein genug angebracht, aber ich will Sie nicht weiter damit plagen. Versprechen Sie mir nur, Miß, daß Sie nicht vergessen wollen, wo die Reinert’s wohnen, wenn Sie einmal nach der Stadt kommen, und daß Sie uns für alle Fälle zu Ihren Freunden rechnen, wenn Sie einmal nichts Besseres bei der Hand haben.“

„Ich weiß wahrhaftig nicht, womit ich so viel Freundlichkeit verdient habe,“ gab das Mädchen zurück, „aber verlassen Sie sich darauf, daß ich sie zu würdigen weiß!“ und mit einem: „Wir werden ja sehen, uns sollen Sie wenigstens immer auf dem Platze finden!“ verabschiedete sich der Besucher, von dem Mädchen bis nach der Treppe geleitet.

Lucy war in ihr Zimmer zurückgekehrt und fühlte sich leichter, als sie es noch vor wenigen Minuten für möglich gehalten. Es war [707] nichts als eine einfache Herzlichkeit, die ihr entgegen getreten, und der, welcher sie ihr geboten, stand weder in gesellschaftlicher noch geistiger Beziehung auf einer Stufe mit ihr; aber es war ein Sonnenstrahl, den gerade jetzt ihre Seele bedurfte, und ohne daß sie daran dachte, jemals einen Nutzen daraus ziehen zu wollen, war es ihr doch, als stehe sie nicht mehr so vereinsamt und haltlos, als sie sich bisher gefühlt. Sie überlegte gelassen das Geschehene. Die Dame des Hauses hatte wieder eine Gelegenheit benutzt, um ihr eine Demüthigung zuzufügen; aber Lucy konnte zuletzt auch darüber hinaus kommen, um dem Vertrauen des Majors genug zu thun und sich selbst zu sagen, daß sie gelernt habe, sich zu fügen, selbst wo dies schwer sein mochte. Ruhig lag sie den Geschäften, welche der Morgen noch für sie hatte, ob, und selbst als die Mulattin sie mit einem Gesichte zu Tische rief, das von einer nur mühsam überwundenen Erregung sprach, vermochte sie dieser beruhigend auf die Schulter zu klopfen und sie zu ermahnen, nicht noch der Wirthschafterin die Freude zu machen, sich an ihrem Aerger weiden zu können. ——

Es war am späten Nachmittag, als sie mit den Kindern von einem Spaziergange zurückkehrte. Auf dem Rasenplatze vor dem Hause stand eine kleine Gesellschaft ältlicher und jüngerer Damen, augenscheinlich im Abschiednehmen von der Schwester des Majors begriffen, und Richard nannte schon von Weitem die Namen Einzelner derselben und bezeichnete sie als nahe Nachbarn. Lucy überflog mit unwillkürlicher Theilnahme die ihr zugewandten Gesichter. Das waren die Elemente, aus welchen sich leicht ein Umgangskreis für sie hätte bilden können, wenn ihr nur durch eine einfache Vorstellung Gelegenheit geboten worden wäre, sich geltend zu machen, und ihr Auge traf auf manche Züge, die ihr reges Interesse weckten. Da sah sie, wie sich einzelne Köpfe nach ihr drehten, um sich indessen nur schnell wieder zurückzuwenden und eine gleich kurze Aufmerksamkeit Anderer auf sie zu lenken; sie sah, wie Mrs. Lowell eine steife Kopfhaltung annahm und die Oberlippe verächtlich hob, wie die Gesichter der Uebrigen fast nur den Wiederschein des ihren zu bilden begannen, wie augenscheinlich die bisherige Conversation verstummte, und blitzschnell stieg die Erkenntniß in dem Mädchen auf, daß der Haß ihrer Gegnerin sich ein noch weiteres Feld als den Kreis ihres Hauses gesucht, daß durch irgend ein Mittel selbst jeder möglichen Freundlichkeit der Nachbarschaft gegen die Erzieherin vorgebeugt worden war. Ein mit tiefer Bitterkeit gemischter Stolz hob sich in ihr, als sie die halb neugierigen, halb unfreundlichen Blicke bemerkte, die bei ihrem Nahen auf sie fielen, während die Dame des Hauses ihr den Rücken zudrehte und mit den ihr Nächststehenden ein Gespräch über das Wetter begann. Mit hochgehobenem Kopfe, die Hände der beiden kleinen Mädchen festfassend, schritt sie an der Gesellschaft vorüber, verneigte sich leicht und betrat das Haus. Sie hörte, wie Richard hinter ihr angerufen wurde, aber ohne zurückzublicken, schritt sie nach ihrem Zimmer und blieb hier, die Kinder von sich lassend, in der Mitte des Raumes stehen. War das nicht mehr, als selbst ein ruhiges Gemüth zu ertragen vermochte? Was auf Erden konnte es wohl geben, das ihr, unbetheiligten Fremden gegenüber, zum Vorwurf gereichen, das ein Begegnen wie das eben erlittene rechtfertigen konnte, wenn ihre Feindin nicht die Lüge und die Verleumdung zu ihren Bundesgenossen gemacht? War aber dies Verfahren einmal gegen sie eingeschlagen, so konnte doch ihr Aufenthalt hier kaum anders als in einem Ruin ihres guten Namens enden, hier, wo sie nur an der Wirkung zu erkennen vermochte, was gegen sie geschah, ohne nur die Möglichkeit einer Vertheidigung für sich zu haben! Und warum ging sie denn nicht und überließ ihren Feinden das Feld, auf dem ihr, doch niemals ein Segen erwachsen konnte?

In einem Zwiespalte mit sich, der ihr den Glauben an die eigene Energie zu rauben drohte, sah sie Richard eintreten, der mit einer Art von Siegesmiene auf sie zuschritt. „Sie sind böse auf Sie da unten, Miß Lucy, ich hab’s wohl gemerkt, als sie mich ausfrugen; aber ich habe es ihnen gesagt!“ begann er mit blitzenden Augen. „Ich habe gesagt, Miß Lucy ist unsere neue Mama, der Niemand weh thun soll; Pa hat sie lieb und wir haben sie lieb. Tante Lowell und die Wirthschafterin mögen fortgehen, wenn sie wollen, hat Pa gesagt, aber Miß Lucy bleibt hier! Tante Lowell hat mich dafür schlagen wollen, aber sie ist nicht schnell genug gewesen!“ Er lachte lustig auf und sprang nach dem anstoßenden Zimmer; dem Mädchen aber war das Blut in’s Gesicht getreten, sie wußte selbst nicht warum; es waren nur kindische Worte, die sie gehört, und doch meinte sie noch von nichts so warm und wohlthuend im Herzen berührt werden zu sein, und erst nach einer Weile tauchte langsam der Gedanke in ihr auf, daß die ihr augenblicklich gewordene Genugthuung doch kaum zu etwas Anderem führen könne, als die Erbitterung ihrer Gegnerinnen nur zu vermehren. Sie saß nieder am Fenster und begann von Neuem über ihre Lage zu grübeln, bis ihr der Kopf weh that; von drüben blickte ihr das Gartenhaus wie ein verkörpertes Geheimniß entgegen; das Gesicht des Majors in eigenthümlichem Zusammenhange mit den seltsamen Worten der Wirthschafterin trat vor sie, und wirre, abenteuerliche Vermuthungen begannen sich in ihr zu bilden, bis endlich Flora’s Eintritt, welche zum Abendessen rief, sie ihrem Hinbrüten entriß.

Es war dunkel geworden, die Zeit, in welcher die Kinder zum Schlafen gebracht wurden, fast fürchtete sich aber Lucy vor dem Alleinsein und ihren Phantasie-Gebilden. Morgen früh beim klaren Sonnenlichte wollte sie einen klaren Entschluß fassen, heute in ihrem erregten Zustande aber jeden Gedanken daran von sich werfen. So nahm sie ihre Zöglinge mit sich in das Zimmer, wo das Piano stand, ließ die kleine Maggy auf ihrem Schooße sitzen und erzählte eine lange Geschichte; als aber das kleine Mädchen am Ende derselben fest eingeschlafen war, hob sie es leise herab, bettete es in den Schaukelstuhl und setzte sich dann zum Piano, dem, was in ihr lebte, was sie drückte, in den Tönen des prächtigen Instruments Ausdruck gebend; Lotty hatte sich bald einen niedrigen Schemel neben sie gezogen, den Kopf an ihren Körper gelehnt und die Augen geschlossen, während Richard auf einem Stuhl in der Fenstervertiefung nur eine kurze Zeit langer gegen seine Müdigkeit kämpfte, und erst nach geraumer Weile ließ Lucy mit einem tiefen Athemzuge die Hände von den Tasten gleiten. Als sie aber jetzt nach den Kindern um sich blickte, begegnete ihr Auge dem des Majors, welcher, bequem auf dem Sopha im Hintergründe niedergelassen, den Blick wie in voller Selbstvergessenheit auf sie geheftet hielt, und Lucy fühlte eine plötzliche Verlegenheit über sich kommen, als sei das Geheimste ihren Herzens belauscht worden. „Ich wußte nicht, Sir, daß Sie hier waren!“ sagte sie, sich nach dem Kinde an ihrer Seite niederbeugend.

„Bin ich Ihnen lästig, Miß, so gehe ich,“ erwiderte er, den Kopf rasch hebend, und Lucy sah im Aufblicken eine tiefe Falte sich zwischen seine Augen legen, „ich will Sie nicht hier vertreiben!“

Fast meinte das Mädchen einen Anflug von Bitterkeit in seinen Worten zu hören, und eine Ahnung der gänzlichen Gemüthlosigkeit, in welcher der Mann im eigenen Hause leben mochte, beschlich sie. „Ich glaube doch kaum etwas Derartiges gesagt zu haben,“ versetzte sie mit unwillkürlicher Herzlichkeit, „ich war nur überrascht, nicht mit den Kindern allein zu sein!“

„Und sind Sie des hiesigen Alleinseins noch nicht müde?“ fragte er, ohne den Ausdruck seiner Züge zu ändern. Lucy aber begegnete einem so scharf beobachtenden Blicke, daß sie eine größere Bedeutung in der Frage suchen mußte, als in den einfachen Worten zu liegen schien. Halte er etwas von den ihr gewordenen Kränkungen erfahren?

„Ich habe voraussehen können, daß ich völlig ohne Umgang und Gesellschaft sein würde,“ erwiderte sie zögernd, „wenn dies auch unter einigermaßen andern Verhältnissen nicht durchaus nothwendig gewesen wäre –“

„Und jedenfalls ist die Sache unangenehmer als sie schien, wollen Sie sagen!“ unterbrach er sie. „Sie haben Recht, und ich hätte das Kommende wissen können. Sie haben heute Besuch gehabt, Miß?“

Sein Ton war von einer so sonderbaren Schroffheit, daß das Mädchen kaum wußte, wie ihn zu deuten, oder welche Antwort zu geben. „Ich habe allerdings Besuch gehabt, Sir,“ erwiderte sie, ihre Haltung zusammenraffend, „einen Landsmann von mir, der sich meiner in einer frühern dringenden Verlegenheit angenommen; aber ich weiß durchaus nicht, in welcher Beziehung er zu der vorigen Frage stehen soll –“

Sein Blick ruhte im finstern Forschen auf ihr. „Very well, Miß,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „Sie haben ein Auge, das sich kaum zum Lügen eignet, und ich frage nicht weiter nach der Beziehung dieses Mannes zu Ihnen. Flora hat mir einzelne Dinge von den Vorgängen im Hause hinterbracht, die mich um Ihre Festigkeit besorgt machten, und kaum hätte ich es Ihnen verdenken [708] können, wenn Sie irgend eine Gelegenheit zur Aenderung Ihrer Lage ergriffen hätten. Meine eigenen Empfindungen müssen Ihnen allerdings gleichgültig sein, aber um der Kinder willen möchte ich Sie bitten, auszuhalten, bis ich Ihnen freien Weg schaffen kann, was nicht mehr zu lange währen soll!“ Er erhob sich, als fürchte er mehr zu sagen, und ging einen Schritt nach der Seitenthür, wandte sich aber dort zurück und reichte dem Mädchen die Hand. „Denken Sie daran, daß den Kindern die Mutter fehlt!“ sagte er, und Lucy sah in ein Auge, in welchem eine herbe Bitterkeit mit der aufsteigenden Weichheit zu kämpfen schien; sie fühlte einen Druck seiner Hand, der ihr fast weh that, und dann sah sie die Seitenthür sich hinter ihm schließen; sie aber meinte in diesem Augenblicke, daß keine Macht der Erde stark genug sein könne, sie den übernommenen Pflichten abwendig zu machen. –

Sie hatte die Kinder zur Ruhe gebracht, aber eine stille Erregung, die nichts mit ihrer frühern Stimmung gemein hatte und die sie doch auch mit Worten nicht hätte bezeichnen können, ließ sie noch nicht daran denken, ihr eigenes Lager zu suchen. Ein klarer Mondschein lag rings um das Haus auf der Landschaft, und als sie einen Blick durch das Fenster warf, meinte sie, nicht schneller in sich selbst Ruhe schaffen zu können, als wenn sie noch einen Gang durch die nächsten Umgebungen mache, die wie ein Bild des Friedens und der Stille vor ihr lagen. Sie sah noch einmal nach den Kindern und verließ dann geräuschlos das Haus, ihren Weg an der Grenze der Gartenanlagen hinnehmend, bis sie den Obstgarten, welcher sie vor allen Blicken aus dem Hause schützte, erreicht hatte. Langsam folgte sie hier einem der geschlängelten Wege und bald begann sie den wohlthuenden Einfluß des freundlichen Nachtbildes, welches ihr von allen Seiten entgegenblickte, auf sich zu fühlen.

Sie grübelte jetzt nicht mehr über ihre Lage, sie wußte, daß sie hier bleiben und aushalten müßte, was auch über sie ergehen werde, bis er es vermöge, die Verhältnisse zu ändern. Sie dachte kaum daran, sich klar zu machen, was sie hier hielt, was diese Bereitwilligkeit in ihr hervorgerufen, sich für ein fremdes Interesse zu opfern, sie wußte nur, daß sie nichts gegen die Macht dieses Blicks vermochte, mit welchem der Major sie verlassen. Wohl hätte sie errathen mögen, was dieser kräftigen Natur im eigenen Hause die Hände binden und sie zu einer Bitterkeit treiben könne, wie sie heute ihr aus seinem Auge entgegengesprungen, aber sie stieß nur auf die alten Räthsel, die sich ihr seit dem ersten Tage geboten – da hielt sie plötzlich ihren Schritt an. Ihr Weg hatte sie ins Freie geführt, und dicht vor ihr lag das Gartenhaus. Matt stach das erleuchtete Fenster gegen die Mondhelle ab, und Lucy von einer Art plötzlicher Scheu vor dem Orte befallen, wollte sich eben wieder zurückwenden, als ihr Blick auf eine Gestalt fiel, die, auf eine unweit entfernte Bank hingeworfen, das Gesicht in die beiden untergelegten Arme verborgen, mehr dort lag als saß, und ein zweiter, schärferer Blick ließ sie ohne Schwierigkeit das Aeußere des Majors erkennen. Eine halbe Minute lang stand sie zögernd, unwillkürlich lauschend, ob sich kein Ton aus dem Häuschen vernehmen lasse, dann aber stieg eine plötzliche Besorgniß in ihr auf – die Gestalt lag so völlig regungslos, als sei das Leben aus ihr entwichen; dazu war die Stellung eine so auffallende, daß sich ganz von selbst der Gedanke an die Möglichkeit eines unglücklichen Vorfalls bot, und langsam trat das Mädchen näher, bereit, bei der kleinsten Bewegung sich zurückzuziehen. Aber sie stand schon neben dem Daliegenden, ohne auch nur ein Zeichen des Athemholens bemerken zu können, und in verstärkter Sorge legte sie mit einem „Major!“ die Hand auf seine Schulter. Aber mit einem plötzlichen Ruck schnellte er zu einer sitzenden Stellung auf, sah das fast erschreckte Mädchen zwei Secunden wie geistesabwesend an und stand dann auf seinen Füßen vor ihr. Seine Stirn zog sich finster zusammen, als er sie erkannte. „Was thun Sie hier? was wollen Sie von mir?“ sagte er barsch, „die Neugierde hat Sie getrieben, Sie sind mir nachgeschlichen! Eine wie die Andere!“ setzte er wie in tiefer Bitterkeit hinzu.

„Ich schleiche Niemand nach, Sir, und die Neugierde gehört am wenigsten zu meinen Fehlern!“ versetzte Lucy, welcher sein rauher Ausbruch schnell ihre volle Fassung wiedergegeben; „hätte mich nicht der bloße Zufall hergeführt, so wäre ich wohl schwerlich so weit gegangen, Sie in der Sorge um Ihren Zustand zu berühren.“

„Ah, und Sie haben, seit Sie hier sind, wahrscheinlich noch kein Wort von diesem Hause gehört,“ versetzte er mit einem Tone, dessen Ironie dem Mädchen weh that, „haben sich auch noch mit keinem Gedanken darum gekümmert!“

„Ich habe Sie einmal im Scheine dieses Fensters gesehen, Sir, und dabei eine Ahnung erhalten, daß Ihr Leben nicht ohne Schmerz ist,“ entgegnete sie ernst, „ich habe später einige unverständliche Worte in Bezug auf das Haus fallen hören, ohne nach Dingen zu forschen, zu deren Ergründung ich das wenigste Recht hatte, und wenn ich Sie jetzt bitte, mir zu glauben, so ist dies wohl nicht mehr, als worauf ich Anspruch machen darf.“ Sie neigte leicht den Kopf und wollte mit einem „Gute Nacht, Sir!“ sich wegwenden, aber die Hand des Dastehenden legte sich auf ihre Schulter.

„Bleiben Sie, Miß,“ sagte dieser, „es ist mir, als müsse ich glauben, daß Sie nicht zu dem großen Troß gehören, wenn dies auch ein wunderliches Gefühl für mich ist, aber wenigstens haben Sie ein Herz – die Deutschen, heißt es, besitzen einen Vorzug darin vor uns – und es ist besser, Sie hören von mir, was Ihnen doch einmal aus anderm, vielleicht gehässigem Munde zu Ohren kommen muß. Setzen Sie sich her!“ fuhr er fort und ließ sich auf die Bank nieder, das Gesicht in beide Hände legend, und von einem wunderbaren Interesse für das, was sie vernehmen werde, getrieben, nahm Lucy neben ihm Platz.

„In diesem Hause,“ begann er nach einer Pause langsam den Kopf hebend und den Blick vor sich auf den Boden richtend, „wohnt die einzige Frau, welche ich in meinem Leben ohne Selbstsucht gefunden, die einzige, die mich meiner selbst willen geliebt hat, und die gerade deshalb zu Grunde gerichtet worden ist, ohne daß ich sie hätte retten können.“

„Es gab eine Zeit,“ fuhr er nach einer neuen Pause fort, „da galt die alte Flora als das schönste Mulattenmädchen, und mein Vater wurde vielfach um ihren Besitz beneidet, obgleich er als eifriges Kirchenmitglied kein anderes Verhältniß zu ihr als das des Herrn zur Sclavin einräumen wollte. Ich war damals nie daheim, bald im Osten, bald in Europa, nur kam eines Tages gerade noch recht, um meinen Vater auf dem Sterbelager zu finden. Meine Schwestern waren verheiratet, und er hatte kaum noch etwas zu ordnen; dennoch schien ihn meine Ankunft zu erleichtern, und als er sich mit mir allein sah, war sein erstes Wort: „Richard, versprich mir eins, berühre Flora’s Tochter nicht, denn sie ist Deine Schwester!“ Es lag nichts Außergewöhnliches in dem eingestandenen Verhältniß, und ich dachte, als ich ihm das geforderte Versprechen in die Hand gab, nur daran, mich baldmöglichst einer Verwandtschaft, die nur zu Inconvenienzen führen konnte, zu entledigen, mein Vater selbst billigte diesen Plan lebhaft, aber mein leichtes Herz spielte mir bald einen verhängnißvollen Streich. Kaum war ich nach dem Tode des alten Herrn mit einer Uebersicht des Nachlasses beschäftigt, so trat eines Morgens ein Gesicht in meinen Weg, wie ich es kaum schöner gesehen; ein Paar tiefe, große Augen, die meine ganze Erscheinung mit einem Male erfassen zu wollen schienen, begegneten den meinen, und eine Stimme, die wie zum Bitten geschaffen war, sagte: „Master, ich flehe Sie an, lassen Sie mich bei meiner Mutter und verkaufen Sie mich nicht an Fremde – der alte Mr. Wood hat es gewollt, ich weiß es, aber seien Sie barmherzig – ich bin Mary, Flora’s Tochter, Sir!“

Das Mädchen war beinahe völlig weiß, ihre Gestalt hätte kaum von jugendlich edleren Formen sein können, und mich überlief ein warmes Mitleiden bei dem Gedanken, sie in irgend eine rohe Hand nur als Opfer der Sinnlichkeit fallen zu sehen; sie war zudem immer ein Stück von einer Schwester, und ich ließ der augenblicklichen Regung ihr Recht – sie erhielt das Versprechen, in ihren bisherigen Verhältnissen gelassen zu werden, und wortlos, aber mit einem wunderbar warmen Aufblick meine Hände küssend, eilte sie davon.“


Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
Titel: Unter Fremden
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 46, S. 735–736
Teil 4


[735] „Von dieser Zeit an“, fuhr Wood fort, „war es fast, als walte ein stiller Genius um mich. Noch nie war besser für meine Bedürfnisse, meine kleinsten Bequemlichkeiten gesorgt worden, und ich durfte kaum nach etwas verlangen, ohne es auch schon bei der Hand zu finden. Meine Wäsche war die glänzendste, mein Zimmer jeden Tag mit frischen Blumen besetzt; nur dann und wann aber traf ich das Mädchen bei einer ihrer geräuschlosen Beschäftigungen, dann indessen hob sie die Augen mit einem solchen Ausdruck des Glücks nach mir, daß ich wohl schon damals an eine tiefere Empfindung ihrerseits hätte glauben können, wenn mich das eigenthümliche Verwandtschaftsverhältniß nur daran hätte denken lassen. Mary war für einzelne der jungen Pflanzer in der Nachbarschaft, schon seit sie erwachsen, ein wünschenswerther Gegenstand gewesen, und was bei meinem Vater nicht erreicht werden konnte, das versuchten sie bei mir. Hohe Summen wurden mir für ihre Ueberlassung geboten, die ich indessen um so leichter zurückwies, jemehr ich mich an die warme, wohlthuende Fürsorge des Mädchens und den Reiz, den ihre freundliche Erscheinung auf mich ausübte, gewohnte; in natürlicher Folge dessen aber verbreitete sich bald die Meinung, daß ich mit ihr in derselben Weise lebe, als mein Vater mit ihrer Mutter. Bei meinen nähern männlichen Bekannten, gegen welche ich kein Hehl aus dem Geschwister-Verhältnisse machte, fand ich wohl endlich meine Rechtfertigung – gnadenlos verurtheilt aber blieb ich bei den Frauen. Ich war ein junger selbstständiger Mann, der schon längst unter den zahlreichen heirathsfähigen Töchtern der umwohnenden Familien hätte wählen sollen, und noch hatte ich mich, meinen mannigfachen Geschäften hingegeben, kaum einmal mit einem Blicke um die sich mir bietende Herrlichkeit gekümmert. Die Erklärung dafür war jetzt gefunden; die Angabe meines wahren Verhältnisses zu Mary ward entweder mit einem ungläubigen Achselzucken hingenommen oder mir als doppelte Unmoralität zur Last gelegt, und doch hätte der unmoralische Mensch bei Müttern und Töchtern Gnade gefunden, wenn er nur das Mädchen zu Gunsten einer oder der andern Schönheit hätte opfern wollen. – Ich fühlte mich indessen so wohl in meiner geordneten Häuslichkeit, daß ich mich über den ganzen Unwillen der weiblichen Welt hinweg gesetzt hätte, wenn nicht das Drängen meiner Verwandten, dem Scandal ein Ende zu machen und eine wirkliche Herrin an die Spitze meines Hauswesens zu stellen, gewesen wäre. Die erste Bedingung dafür war natürlich Mary’s Entfernung, und erst als mir die vorzunehmende Aenderung zur halben Ehrensache für die Familie gemacht worden, ging ich daran – aber mit schwerem Herzen. Ich fühlte jetzt erst, wie sehr das Mädchen mit meinen ganzen Lebensgewohnheiten verwoben war. Ich legte ihr die Nothwendigkeit des Schrittes vor, aber je länger ich ihr in das zitternde Auge sah, je weniger wollte mir dieselbe selbst einleuchten; ich bot ihr die Freiheit an und ein kleines Capital, womit sie sich bei ihren mancherlei Fertigkeiten im Osten eine eigene Existenz gründen könne; da fiel sie vor mir auf die Kniee und rief: „Master, was habe ich denn verbrochen? Ich mag nicht frei sein und will nur hier bleiben dürfen; und duldet mich die neue Mistreß nicht im Hause, so will ich mit auf dem Felde arbeiten – aber nur nicht fortschicken, nicht fortschicken, Sir!“

Da las ich zum ersten Male in ihrem Blicke, daß es eine Liebe geben könne, die über jedem Interesse steht, wenn ich sie auch am wenigsten unter den Frauen meiner Kreise gefunden; aber ich war in dem Versprechen gegen meine Verwandten schon zu weit gegangen, als daß ich hätte ganz davon zurücktreten können. Eine Meile von hier liegt eine andere Farm-Abtheilung, dorthin, in die Negerküche, ward Mary versetzt, und als es sich erwies, daß ich zu keiner eingreifenderen Aenderung zu bewegen war, fand sich auch eine mitleidige Seele, die sich entschließen konnte, mein Haus und Vermögen mit mir zu theilen. Meine Verwandten hatten die Heirath geordnet, und ich ging sie ein, wie ein unvermeidliches Geschäft; ich sah Mary nicht wieder, wie ich es versprochen, und ertrug meine veränderte Lebensweise so gut es ging.

„Das währte über zwei Jahre“, fuhr der Redner mit einem tiefen Athemzuge fort, „bis Lotty geboren ward und eine starke Erkältung, die ich mir in der Regennacht beim Ritte nach dem Arzte geholt, mich krank niederwarf. Ich wußte bald von mir nichts mehr, und Flora holte in ihrer Bedrängniß auf eigene Gefahr ihre Tochter zur Aushülfe. Wie im Traume hörte ich diese endlich durch das Zimmer gleiten, ich kannte noch ihren Tritt und es war mir, als habe sie nie das Haus verlassen, hörte sie im Nebenzimmer den kleinen Richard beruhigen und meiner Frau antworten, die sich Beide niemals gesehen; als ich aber einen Morgens zum ersten Male wieder zu klarem Bewußtsein erwachte, sah ich sie vor meinem Bette auf den Knieen liegen, das Gesicht in die Kissen gedrückt, und als ich ihren Namen nannte, fuhr sie auf, küßte krampfhaft meine Hände und stürzte zum Zimmer hinaus. Erst Tags darauf erfuhr ich, daß meine Frau instinctmäßig ihre Persönlichkeit errathen, sie fortgesandt und ihr verboten hatte, jemals das Haus wieder zu betreten – und diese Frau verdankte nur der regen Sorge des Mädchens, das neun Nächte an ihrem Bette gesessen, das mit unermüdeter Wachsamkeit jede Störung und jeden Ton aus ihrer Nähe gehalten, das Leben. Mich aber überkam es, wenn ich an die abgemagerten, bleichen Züge und die entzündeten Augen der Ausgewiesenen dachte, wie eine bittere Selbstanklage – und doch hätte ich nicht ohne völligen Bruch mit Allem, was Familie und Convenienz heißt, ihr Schicksal ändern können.

Und wieder vergingen fast zwei Jahre, bis meine Frau bei Geburt der kleinen Maggy starb. Auf’s Neue war während der Zeit dem Mädchen die Freiheit angeboten worden, ohne daß sie darauf eingegangen wäre, und ich hatte es nicht über mich gewinnen können, sie völlig ohne den Trost einiger freundlicher Worte zu lassen; fast schien sie innerlich nur von diesen gelegentlichen Begegnungen zu zehren – jetzt aber sandte ich nach ihr zur Pflege der Kinder, und wie sie mit jedem Tage bei ihrem erneuten Walten in meiner Nähe sichtlich aufzublühen schien, so begann auch meine Häuslichkeit ihren frühern Reiz wieder für mich zu gewinnen. Ich lieh den neuen Vorstellungen meiner Verwandten taube Ohren, erklärte ihnen die Nutzlosigkeit jeder Bemühung für eine zweite Heirath, und die Lästerzungen wurden es endlich müde zu reden. Aber die Kinder wuchsen heran, ich durfte sie kaum mehr in der alleinigen Hand von Dienstleuten lassen und mußte an ihre Erziehung denken. Eine meiner Schwestern war kinderlose Wittwe und hätte am geeignetsten Mutterstelle vertreten, doch nur bei Mary’s Entfernung glaubte sie mit Ehren meinem Hause vorstehen zu können. Sie kam endlich selbst, kam während meiner Abwesenheit von der Farm, und als ich heimkehrte, trat sie mir mit der Nachricht entgegen, daß sie selbst dem Mädchen in’s Gewissen geredet und dieses bereit sei zu gehen. Was sie ihr gesagt, sollte sich nur darauf beschränkt haben, daß Mary meinem Glücke und der Zukunft der Kinder im Wege stehe, Flora aber berichtete mir mit verstörtem Gesichte, daß die Angekommene sich fast eine Stunde mit dem Mädchen eingeschlossen und die Mulattin beim Oeffnen der Thür ihre Tochter ohnmächtig gefunden habe.

Ich kämpfte einen harten Kampf mit mir; ich wußte, daß ich bei den ringsum bestehenden Vorurtheilen auf keine achtbare weibliche Unterstützung, wie ich sie bedurfte, zu rechnen hatte, und ich konnte die Wohlfahrt der Kinder nicht der Neigung einer Farbigen und meinen persönlichen Wünschen opfern; dennoch wollte mir ihre Entfernung wie ein schreiender Undank erscheinen, und ich klammerte mich endlich an den Gedanken, daß sie freiwillig gehe. Ich ließ sie kommen, und ein glanzloses Auge, eine geknickte Gestalt, die meine Frage fast in einem innern Weh ersticken ließen, trat vor mich. „Ich weiß, daß ich gehen muß, und ich gehe, Sir!“ sagte sie, fast ohne jeden Klang in ihrer Stimme, und als ich ihr zu sprach, daß sie mir sagen solle, wohin sie zu gehen gedenke, daß ich ihr die Freilassungspapiere sofort ausstellen und sie mit einer genügenden Summe versehen werde, schüttelte sie nur den Kopf und sagte: „Ich gehe, wohin ich geschickt werde, Sir, es ist mir Alles gleich!“

Ich entließ sie mit schwerem Herzen. Am andern Morgen aber saß sie noch in ihrer Kammer, wohin sie sich am Abend zuvor gesetzt haben mochte, blickte stier und theilnahmlos in’s Leere, [736] und weder die Stimme ihrer weinenden Mutter, noch die meine waren im Stande, ihr eine Antwort zu entlocken – sie war irrsinnig!“

Mit bebendem, gesunkenem Tone hatte der Erzähler die letzten Worte gesprochen und blickte in finsterem Schweigen eine Zeitlang vor sich nieder. „Ich weiß nicht, ob meiner Schwester ein Rest von Gewissen schlug,“ fuhr er dann langsam fort, „aber sie hatte nichts dagegen, daß die möglichen Heilungsversuche mit dem armen, treuen Wesen hier angestellt wurden, und so ward für Mary das Haus hier eingeräumt, bald aber auch jede Hoffnung auf eine Wiederherstellung aufgegeben. Fast ein Jahr ist es jetzt her, daß sie todt für die Außenwelt in endlosem Hinbrüten die Tage verbringt, und nur periodenweise scheint eine Erinnerung in ihr zu erwachen. Dann klagt sie, daß sie sterben werde, wenn sie gehen müsse, spricht von glühenden Krallen, die ihr das Herz aus der Brust reißen wollen, und nur wenn ich an ihrem Lager sitze und zu ihr rede, geht der Anfall langsam in einen todtenähnlichen Schlummer über. Von Monat zu Monat ist sie mehr hingeschwunden, und morgen – wird sie wohl erlöst sein!“

Lucy vermochte kaum den leisen Ton der letzten Worte zu vernehmen, dann aber fühlte sie plötzlich ihre Hand gefaßt. „Kommen Sie,“ sagte der Redende fast rauh, sich rasch erhebend, „es ist lehrreich für jede Frau, ein Opfer ihres eigenen Geschlechts zu betrachten!“ und willenlos, einem Eindrucke preisgegeben, der sich kaum aus dem Gehörten allein hätte erklären lassen, folgte sie dem Major, welcher nach der Thür des Hauses schritt, hier einen Moment, wie sich sammelnd, stehen blieb und dann behutsam öffnete.

Ein einfach, aber bequem eingerichtetes Zimmer, dessen dicker Fußteppich keinen Schritt hörbar werden ließ, empfing sie, und im Hintergrunde auf einem weißen Lager, matt von dem Lichte der Schirmlampe beschienen, zeigte sich eine regungslose, anscheinend schlafende Gestalt, von der still weinenden Flora und einem Negermädchen bewacht. Vorsichtig auftretend führte der Hausherr seine Begleiterin heran. Ein gelbes, bis auf die Knochen abgemagertes Gesicht, von welchem die dunkeln, edel gezeichneten Augenbrauen und das dichte, schwarze Haar in scharfem Contraste abstachen, trat Lucy’s Blick entgegen, und sie würde die Daliegende schon jetzt für eine Leiche gehalten haben, wenn nicht ein zeitweises schwaches Zucken sich in den verfallenen Zügen bemerkbar gemacht hätte.

„Und dies ist jetzt Alles, was von dem schönsten, reinsten Geschöpfe, das je in unserm Lande gewandelt, übrig geblieben!“ sagte Wood nach einer langen Pause mit tiefer, halbunterdrückter Stimme und wandte sich dann nach der Thür, als wolle er seine Empfindungen verbergen; Lucy aber reichte der alten Mulattin mit einem Blicke tiefen Mitleids die Hand, welche sie deren Küssen kaum wieder entziehen konnte, und folgte dann dem Vorangegangenen.

„Und können Sie jetzt verstehen, daß ich die Frauen hasse?“ fragte er, als sie an seine Seite trat, langsam dem Wohnhause zuschreitend, und sein Gesicht schien jeden weichern Ausdruck wieder völlig abgestreift zu haben.

„Und ist sie nicht ebenfalls eine Frau?“ gab das Mädchen ernst zurück; um den Mund ihres Begleiters aber zuckte es wie bittere Ironie.

„Sie? der Gestalt nach allerdings!“ erwiderte er. „Eigentlich aber wollten Sie wohl nur fragen, was Sie denn selbst seien, gegen die ich eine solche Aeußerung thue?“

„Und wenn ich dies gemeint hätte, Sir, obgleich ich nicht daran dachte,“ sagte sie, in einem unklaren Gefühle erlittenen Unrechts den Kopf hebend, „wenn ich Sie fragen möchte, wie Sie bei diesen rücksichtlos ausgesprochenen Empfindungen von mir eine Pflichterfüllung und Selbstverleugnung fordern können, die sich doch kaum mit Ihren Begriffen vereinigen läßt –“

Er blickte in den mondhellen Nachthimmel hinein, ohne zu antworten. „Fragen Sie mich jetzt nicht, wie ich zu dem sonderbaren Vertrauen gegen Sie gekommen, denn ich könnte Ihnen kaum etwas darauf sagen,“ entgegnete er endlich, „und nur eins, Miß,“ wandte er sich rasch nach ihr, „machen Sie es nicht zu Schanden! Und nun gute Nacht!“

Er hatte ihr die Hand gereicht, in welche sie mechanisch die ihre gelegt; sie hatte seinen kräftigen Druck gefühlt und war dann fast wie im Traume in ihr Zimmer gelangt. Erst als sie sich auf ihrem Lager fand, fühlte sie die ganze Stärke der Erregung, welche die letzten Bewegungen in ihr hervorgerufen, und selbst als sie nach längerer Zeit die Augen geschlossen, verfolgten sie die Bilder des Erlebten in wirren Traumgestalten, aber mit einer peinigenden Lebendigkeit. Sie stand wieder vor dem Gartenhause, sie wußte, Mary war gestorben, und doch war es ihr zugleich, als sei sie selbst diese Mary, die den Mann, der die Frauen haßte, so unsäglich liebte und doch nichts hoffen durfte, als sich für ihn opfern zu können; sie war die Tochter der alten Flora, die Wirthschaftin hatte es ja gesagt, – und da trat die letztere selbst aus der geöffneten Thür, nickte ihr mit einem häßlichen Lächeln zu und sagte, es sei schon Alles für sie bereit. Und drinnen stand Mary’s Bett, noch mit dem Eindrucke in den Kissen, den die Gestorbene hinterlassen, dem sollte sie jetzt ihre eigenen Glieder anpassen, und ein entsetzliches Grauen überkam sie, sie wollte fliehen und konnte doch kein Glied rühren – da blicke des Majors Gesicht zum Fenster herein, genau mit dem Ausdrucke des Schmerzes, mit welchem sie ihn hier schon hatte stehen sehen, und sie wußte, er trauerte um sie; zugleich aber war es, als zerreiße bei seinem Anblicke plötzlich der Bann, der auf ihr gelegen; fort trugen sie ihre Füße schneller und schneller, und hinter ihr klang es in Schmerzenslauten: „O, warum fliehst du mich? gedenke der Kinder und deines Versprechens!“ Und sie hätte anhalten und umkehren mögen, aber nur eiliger ward ihre willenlose Flucht, ferner und immer ferner klangen die Mahnungen zur Rückkehr, bis sie unter verzweifelten Anstrengungen, ihrem Laufe Einhalt zu thun, erwachte. Sie fühlte ihren Körper mit Schweiß bedeckt, noch rieselte ein Grauen durch ihre Nerven, und es gewährte ihr eine sonderbare Erleichterung, als sie Richard sich geräuschvoll in seinem Bette zur Seite werfen hörte. Wohl entschlief sie wieder, aber ihr Schlaf war ein unruhiger, erquickungsloser, und als sie am Morgen ihr Lager verließ, fühlte sie sich niedergedrückt und krank.

Fast war es ihr lieb, als an Flora’s Stelle eine ihr unbekannte Negerin zur Aufwartung kam. Mary, erzählte diese, sei während der Nacht gestorben und solle am Nachmittage begraben werden, der Major aber sei schon nach der Stadt geritten und werde vor morgen Abend nicht zurück erwartet.

Trübe verging der Tag; eine Scheu vor der Erinnerung an ihre nächtlichen Bilder hielt Lucy ab, selbst den kleinsten Blick aus ihren Fenstern zu werfen, und sie mußte oft gegen sich selbst kämpfen, mußte sich selbst darlegen, daß ein krankhafter Zustand sie beherrsche, wenn sie, unwillkürlich ihren Gedanken überlassen, eine ungewohnte Verzagtheit sich überschleichen fühlte und die Frage immer wieder in ihr auftauchte, ob sie nicht doch zu schwach sein werde, den Kampf gegen die sie umgebenden Verhältnisse durchzuführen. Sie konnte nun errathen, was dem Major im eigenen Bereiche oft die Kraft lähmte. Die Anwesenheit seiner Schwester hatte sein Haus der Welt gegenüber wieder zu Ehren gebracht, und er konnte sie nicht entbehren, wenn er nicht auf’s Neue mit der Gesellschaft brechen wollte. Wie aber vermochte er unter diesen Umständen ihr Recht den beiden Frauen gegenüber geltend zu machen? Für Lucy’s eigene Ehre war ja die Anwesenheit einer Dame im Hause nothwendig, selbst wenn er der gemietheten Erzieherin die Schwester hätte opfern wollen!

Nur wenn aus ihrer Erinnerung des Hausherrn kräftiger, sonorer Ton in ihre Ohren klang, wurde es ihr, als solle sie nicht selbst grübeln, wo sie doch zu keinem Ende gelange, und Alles ihm überlassen, der am besten wissen werde, wie das ihr gegebene Versprechen einer baldigen Aenderung zu lösen.

Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
Titel: Unter Fremden
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 47, S. 748–752
Teil 5 // Schluß


[748] Der nächste Morgen schien so hell und sonnig in Lucy’s Zimmer, als sei er nur gekommen, um den Rest der gedrückten Stimmung in des Mädchens Seele zu zerstreuen; Flora trat wieder mit einem so gewöhnlichen Gesichte ein, daß jene unwillkürlich eine Betrachtung über die Leichtigkeit, mit welcher die Farbigen ihre schmerzlichen Eindrücke zu überkommen scheinen, anstellte, und nach beendigtem Frühstücke ließ Lucy die Kinder unter der Obhut der Mulattin, um in einem kurzen Gange durch die frische Morgenluft sich den Geist wieder völlig klar und frei zu schaffen. Sie hatte den Weg nach der großen Straße, auf welcher sie früher angekommen war, genommen, hatte diese ein Stück verfolgt und sich eben wieder umgewandt, um den Rückweg anzutreten, als sie unweit von sich, auf einer einmündenden Seitenstraße, einen mit Gemüse beladenen Wagen heranrollen sah, auf dessen Vordersitze sie ihren Landsmann und kürzlichen Besucher erkannte. Lächelnd blieb sie stehen, um sein Herankommen zu erwarten; der Gemüsehändler aber schien sie kaum bemerkt zu haben, als er plötzlich sein Pferd zu langsamerem Schritte anhielt, sich mit der Hand unter die Kopfbedeckung fuhr [749] und, ohne einen Blick nach dem Mädchen zu werfen, sichtlich mit einem Entschlusse zu kämpfen schien – dann aber ebenso plötzlich die Peitsche brauchte, als wollte er die kurze Zögerung wieder einbringen, und bald neben der Wartenden anhielt.

„Sie scheinen schon früh auf den Füßen gewesen zu sein!“ rief Lucy, welche sich über die eigenthümlichen Bewegungen des Mannes kaum einen Gedanken gemacht, und mit einem: „Man muß ja wohl!“ sprang dieser vom Wagen.

„’s ist mir eigentlich ganz lieb, daß ich Sie treffe, Miß,“ fuhr er fort, während sein Blick, dem Auge des Mädchens ausweichend, irgend einen Gegenstand in der Entfernung zu betrachten schien. „Sie sind eine Deutsche, auf der ein Landsmann nichts sitzen lassen sollte, und meine Frau hat Sie viel zu lieb, als daß ich nicht gegen Sie gerade heraus reden müßte!“ Er machte eine Pause, als wisse er nicht sogleich, wie fortzufahren; Lucy aber hatte bei der sonderbaren Begrüßung zuerst in leichter Verwunderung den Kopf gehoben, dann indessen, wie in einer plötzlich erwachten Ahnung, groß und erwartend die Augen geöffnet.

„Sie haben mir etwas zu sagen, Mr. Reinert!“ sprach sie, sich fast hörbar zu einem ruhigen Tone zwingend, „bitte, sprechen Sie ohne jeden Umschweif, was ist es? “

„Nun ja, ich muß es auch,“ erwiderte er, Lucy’s Blick von Neuem vermeidend, „ich glaube nicht dran, aber es ist Ihret- und unsertwegen, wir sind doch alle Deutsche, die sich schon straff genug gegen die Amerikaner halten müssen. Also ich war soeben auf der Farm, gerade hier hinüber, um Kraut zu holen, und der Amerikaner, Brown heißt er, hatte, während ich auflud, ein Gespräch mit seiner Frau, in das ich gern selber ein gehöriges Wort gegeben hätte, wenn ich nur gleich gewußt hätte, wie. Es war die Rede von Ihnen, ich konnt’ es mit den Händen greifen. Der Major in dem Hause, wo Sie jetzt sind, habe Sie nur kommen lassen, hieß es, um – nun gerade heraus, um eine neue Liebste zu haben, er wolle durchaus nicht mehr heirathen, und Sie stünden schon so gut mit ihm, daß seine Schwester dort kein Wort mehr im Hause zu sagen habe. – Nun, ich mußte an die sonderbaren Augen der alten Lady denken, als ich Sie vorgestern besuchte,“ fuhr er mit einem halb scheuen Blick in Lucy’s Gesicht fort, „sonst wäre ich doch richtig deutsch losgefahren, und dann sagte auch der Amerikaner noch, der Major wäre wegen dergleichen Geschichten bekannt, und die Frau thue am besten, nicht wieder nach seinem Hause zu gehen –“ er hielt inne, wie erschrocken vor der Todtenbleiche, welche sich über des Mädchens Züge ergossen. „Ich wußte ja wohl, daß so etwas nicht sein könne,“ fuhr er rasch fort, „aber ich konnte doch eben nichts Anderes thun, als es Ihnen sagen, da ich Sie gerade traf –“

„Warten Sie,“ unterbrach ihn Lucy, als ob die innere Aufregung ihre Stimme lähme, und legte mit einem eigenthümlich starren Blick ihre Hand an seinen Arm, „wo ist der Mann, der Worte in dem Sinne, welchen Sie eben angedeutet, ausgesprochen?“

„Ich sage Ihnen ja, gleich hier drüben auf der Farm, nicht eine Viertelmeile weit; aber,“ setzte er eifrig hinzu, „ich glaube kein Wort davon, verlassen Sie sich darauf!“

„Und wollen Sie mit mir gehen,“ fuhr das Mädchen fort, „und vor demselben Manne bezeugen, was Sie gehört?“

Eine gänzliche Veränderung fand plötzlich in Reinert’s Haltung statt. Sein Kopf hob sich, seine Augen blitzten auf und wandten sich fest der vor ihm Stehenden zu, eine Art freudiger Genugthuung schien in seinem Gesichte aufzusteigen. „Sie – Sie wollen ihm selbst auf den Leib rücken? Hier bin ich, Miß!“ rief er, „jedes Wort bis aufs Pünktchen will ich ihm unter die Nase halten; das ist der Weg – ich wußte ja wohl, wie es stand!“

„So kommen Sie!“ entgegnete sie energisch, während ihre bleichen Züge eine Art steinernen Ausdrucks annahmen, und bog rasch in die Straße ein, auf welcher der Gemüsehändler herangekommen.

„Wollen Sie nicht lieber aufsitzen, Miß?“ rief ihr dieser nach, aber nur ein kurzes Kopfschütteln antwortete ihm, und mit einem Nicken voll sichtlicher Befriedigung ließ er das Pferd den Wagen drehen und trieb es an ihre Seite.

Wortlos, starr vor sich in’s Weite blickend, schritt Lucy raschen Schritts dahin, bis nach kurzer Zeit das Wohnhaus der angedeuteten Besitzung vor ihnen auftauchte. Zu ihr war es so klarer, schrecklicher Tag geworden, daß sie vor seiner blendenden Helle nur das nächste Eine erkennen konnte: der volle Ruin ihrer Ehre war es, durch den ihre Gegnerinnen sie hinwegzutreiben gedachten, und die Blicke der Gesellschaft, welche sie sich zwei Tage zuvor nicht hatte erklären können, zeigten sich jetzt in der einfachsten, fürchterlichsten Deutung; in einer Art von Verzweiflung aber strebte sie jetzt nur danach, sich selbst zu überführen, wie weit der Plan ihrer Feinde gelungen. Nicht mit einer der Frauen, welche sie damals gesehen, hätte sie deshalb verkehren mögen – „ich hasse die Frauen!“ tönten ihr des Majors frühere Worte im Ohre, und fast war es ihr, als wäre es nur ein Klang aus ihrer eigenen Seele; aber der Deutsche hatte von einem Manne gesprochen, und dieser war gezwungen, ihr für die gefallenen Worte Rede zu stehen.

„Dort ist der Gentleman!“ hörte sie ihres Begleiters Stimme, als sie kaum die Nähe des Hauses erreicht hatten, und rasch aufsehend erblickte sie den noch jungen Besitzer, welcher einige neu gepflanzte Bäume zu besichtigen schien, bei dem Geräusch des herankommenden Wagens aber den Kopf nach den Ankommenden gehoben hatte.

Lucy ließ einen einzigen forschenden Blick über das Aeußere des Mannes gleiten und schritt dann, während der Gemüsehändler die Zügel kurz an den Wagen schlang und ihr folgte, hochaufgerichtet dem Dastehenden entgegen.

„Ich bin die Erzieherin der Kinder des Major Wood, Sir,“ sagte sie, den Blick fest in das überraschte Auge des Angeredeten heftend, „ein Mädchen, das allein steht, das mit dem, was sie gelernt, bestrebt ist, sich eine ehrenhafte Existenz zu schaffen, das Niemand hat, um für ihren guten Namen einzustehen, als sich selbst – und ich möchte Sie fragen, Sir, was Sie von einem mich entehrenden Gerüchte wissen, das Sie vor Kurzem in einem von Ihnen geführten Gespräche erwähnt, dem es dieser Mann hier entnommen. Ich bitte Sie von Grund meines Herzens, mir nichts vorzuenthalten, Sir, sich in die Seele einer Schwester hineinzudenken, wenn diese das Unglück haben sollte, in meinem Verhältnisse unter Fremden zu stehen –“ sie hielt inne, da sie ihre Stimme brechen fühlte, sie rang gewaltsam nach Fassung, aber sie konnte es nicht hindern, daß zwei große, schwere Thränen aus ihren Augen drangen.

„Ich bitte Sie doch herzlich, Miß – ich weiß kaum, wovon Sie reden!“ erwiderte der Amerikaner, sichtlich mit einer ihn überraschenden Verlegenheit kämpfend und dabei einen unwilligen Blick nach dem herangetretenen Gemüsehändler werfend; dieser aber schien nur hierauf gewartet zu haben.

„Aber ich weiß, wovon gesprochen Worten ist, Sir!“ rief er, den Kopf trotzig hebend, „dies hier ist meine Landsmännin, die ich nicht erst von heute kenne, und eine so achtbare Lady, als es nur eine hier geben mag; wahrscheinlich würden Sie auch nicht geschwiegen haben, wenn von einer Ihrer Bekannten das gesagt worden wäre, was ich vor kaum einer halben Stunde hier anzuhören hatte.“

„Nun wohl, Miß,“ entgegnete der Erstere, wie zu einem Entschlusse kommend, „was ich ausgesprochen, ist weder meine Erfindung, noch etwas Anderes, als was seit kurzer Zeit in der ganzen Nachbarschaft cursirt. Wenn Ihnen Unrecht damit geschieht, was ich nach der Art Ihres Auftretens fast vermuthe, so mögen Sie die Duelle in des Majors Wood eigenem Hause suchen. Aber treten Sie mit in’s Zimmer, damit wir nicht unberufene Zuhörer erhalten!“ schloß er, sich besorgt umblickend.

„Es ist genug, Sir, mehr als genug!“ preßte Lucy hervor und wandte sich ohne Abschiedswort wieder der Straße zu, als könne sie ihre hervorbrechenden Empfindungen nicht mehr verbergen; Reinert aber sah einen Augenblick wie unschlüssig erst finster den Amerikaner an, dann dem davongehenden Mädchen nach, ergriff endlich mit einem unverständlichen Kraftworte die Zügel und wandte hastig den Wagen, um das Pferd der Voraneilenden nachzutreiben.

„Ich habe mir doch fast etwas gedacht, als ich hörte, daß Sie unter die Amerikaner gingen!“ sagte er, als er die Letztere eingeholt, augenscheinlich aber nur um etwas zu sprechen; Lucy indessen hörte nicht einmal die Worte; in ihr klang es: „was in der ganzen Nachbarschaft cursirt – seine Liebste!“ daß es ihr wurde, als müsse sie wahnsinnig davon werden. War es nicht die Wiederholung derselben Geschichte, die Mary zu Grunde gerichtet? Und dahin also deuteten die Worte der Wirthschafterin! Die Bilder ihres letzten Traumes tauchten vor ihr auf – daß Gartenhaus stand leer, und ihr fehlte nach ihrer jetzigen Stimmung kaum mehr viel, um davon Besitz nehmen zu können. Eine peinliche, [750] halb abergläubische Angst ergriff sie; fort, nur fort aus der Nähe dieses Ortes! drängte es in ihr; sie fühlte es nicht, daß sie von dem scharfen Schritte, welchen sie angenommen, fast außer Athem war, und als sie an die Hauptstraße gelangte, wo sie vorher den Gemüsehändler erwartet, wäre sie, ohne sich nur ihrer Umgebungen bewußt zu werden, wohl in der Richtung nach der Stadt weiter geeilt, hätte sie nicht Reinert durch einen lauten Zuruf zum Aufsehen gebracht. „Wollen Sie noch weiter mit mir gehen und der ganzen Gesellschaft hier den Rücken zeigen, so sind Sie bei uns von Herzen willkommen, Miß,“ setzte dieser hinzu, „was Sie hier haben mögen, finden Sie wohl an zehn andern Orten. Dann aber, denke ich, nehmen wir gleich Ihr Gepäck mit, es erspart einen zweiten Weg!“

Lucy stand, sich mit voller Kraft sammelnd, und warf einen Blick nach ihrer bisherigen Heimath, wo die Kinder auf sie warteten und Flora wohl vergebens sie zu beruhigen strebte – und dann einen Blick in der Richtung nach der Stadt, die für sie kaum besser war als das weite unbekannte Meer; aber sie wußte, daß sie an der Grenze ihrer bisherigen Wirksamkeit stand, daß es das erste Gebot ihrer Ehre, gegen welche keine andere Rücksicht aufkommen konnte, war, das Haus vor ihr nur noch einmal zu betreten, um es zu verlassen, und sie konnte nur noch mit sich in Zweifel sein, auf welche Art dies Letztere geschehen sollte.

„Wenn Sie und Ihre Frau mir für eine kurze Zeit Schutz und Aufnahme gewähren wollen, Mr. Reinert, so werde ich schnell meine Sachen zusammenpacken und mit Ihnen gehen!“ sagte sie langsam; „ich habe noch so viel Mittel, um Ihnen nicht zur Last fallen zu müssen –“

„Heiliges –! lassen Sie mich nicht fluchen, Miß, was kümmern mich denn Ihre Mittel!“ fuhr Reinert in gutmüthigem Aerger auf, „können wir Ihnen denn nicht einmal einen Gefallen thun, wenn wir auch nicht zu den feinen Leuten gehören? Im Uebrigen ist es mir ein wahres Vergnügen, daß die Geschichte gleich einschlägt, wie sie soll, und sie werden jetzt hier herum wissen, wie sie mit den Deutschen d’ran sind. Nur los jetzt und packen Sie ruhig zusammen, ich kann mir Zeit nehmen zum Warten!“

Der kurze Weg nach Wood’s Hause ward eingeschlagen; je näher Lucy diesem aber kam, je mehr drängten sich neue Bilder zwischen sie und die angethane Schmach. Sie sah den Major, wie er heimkehrend ihre schnelle Entfernung erfahren, wie er in der unangenehmen Ueberraschung ihre Gründe kaum voll genug würdigen werde – sie mußte ihm einige Zeilen hinterlassen, doch kaum wußte sie noch, wie in wenige Worte das zu legen, was sie hinwegtrieb, trotzdem alle Fasern ihrer Seele sich hier hätten anklammern mögen. Dann traten die Kinder vor ihren Blick – sie durften nichts von ihrem Entschlusse erfahren, sie wären mit ihren schwachen Händen allein im Stande gewesen, ihre Stärke zu brechen – da hielt der Wagen vor der Einzäunung des Rasenplatzes, und Reinert rief halblaut: „Nun in Gottes Namen, Miß, und vergessen Sie nicht, wenn Ihnen etwas in den Weg kommen sollte, daß ich hier halte und bei Ihnen sein kann, sobald Sie nur wollen!“

Lucy wandte sich rasch dem Hause zu und stieg nach ihrem Zimmer hinauf, wo ihr bereits der Lärm der Kinder entgegenklang. „Da ist Miß Lucy!“ hörte sie beim Eintreten Flora’s Stimme, und im nächsten Augenblicke fühlte sie auch schon ihre Hände und ihr Kleid unter den verschiedensten Ausrufungen gefaßt. Sie bog sich herab, küßte unter mühsam zurückgehaltenen Empfindungen jeden ihr zustrebenden kleinen Mund und sandte die Kinder dann mit der Mahnung in’s Freie, auf den ersten Ruf wieder zurück zu sein. – „Ich gehe weg, Flora,“ wandte sie sich nach einer kurzen Pause, die zu ihrer Fassung nöthig gewesen, an die Mulattin, „räumen Sie die Kasten aus, in zehn Minuten muß mein Koffer gepackt sein – je rascher Sie sind, je mehr werde ich Ihnen erkenntlich sein!“ Die Mulattin aber sah sie mit groß aufgerissenen Augen an, und als sich das Mädchen nach dem Schreibtische wandte, schlug sie die Hände mit einem: „O, du mein Gott, auch das noch!“ zusammen. „Aber ich hab’ es doch gewußt,“ fuhr sie wie im ausbrechenden Jammer fort, „wo die Teufel sind, kann ein Engel nicht bleiben! Was wird der Major sagen!“ Dann indessen, wie sich zusammenraffend, mit wunderlich zuckendem Gesichte, riß sie Lucy’s Koffer aus einer Ecke hervor, öffnete die Kommode und begann unter Kopfschütteln und halblaut gemurmelten Ausrufungen die ihr befohlene Arbeit.

Unterdessen hatte Lucy, ohne den bei ihrem Morgenspaziergange gebrauchten Hut abzulegen, sich zum Schreiben gesetzt und begann nach einem kurzen, nachdenklichen Blicke durch das Fenster, während dessen die Erregung in allen ihren Mienen zitterte:

„Sir! Es giebt Lagen, welche selbst die heiligsten Vorsätze, die freudigste Bereitwilligkeit, für das Glück Anderer jede Selbstgenugthuung zu opfern, sowie die eigenen Herzensbedürfnisse machtlos machen können – und in einer solchen befinde ich mich augenblicklich. Ich muß Ihr Haus verlassen, ohne im Stande zu sein, Ihre Rückkehr abzuwarten und mich gegen Sie zu rechtfertigen; ich thue es mit blutendem Herzen, aber ich kann nicht anders. Wenden Sie sich an Ihren Nachbar, Mr. Brown, er wird Ihnen bessern Aufschluß über das, was mich forttreibt, zu geben vermögen, als ich es thun könnte. Ich wiederhole es noch einmal, ich gehe mit blutendem Herzen, ich hätte mit jedem Opfer das auf mich gesetzte Vertrauen verdienen mögen, nur nicht mit dem meiner Ehre. Die mir übergebene Banknote schließe ich wieder bei, da ich ihrer zu meiner augenblicklichen Existenz nicht bedarf, ohne damit indessen einer vollen Anerkennung der Freundlichkeit, welche mir Ihrerseits während meiner Anwesenheit in Ihrem Hause geworden, Eintrag thun zu wollen. Gestatten Sie, daß ich mich nenne Ihre dankbare
Lucy Hast.“

Sie überlas nochmals bedächtig das Geschriebene, schloß es mit der erwähnten Banknote in ein Couvert, das sie in festen Zügen mit der Adresse versah, und trat dann zu Flora, die letzte Hand an das Packen ihrer Habseligkeiten legen. „O, der einzige Stern im Hause sinkt unter, wenn Sie gehen, Miß,“ sagte die Mulattin, „aber dann wird der Master wenigstens merken, wen er an die Spitze seinen Hauses gesetzt – mein Kind war nur von schwarzem Blute und konnte nicht gegen das weiße aufkommen – aber jetzt –! O ich gönne es ihnen und ich werde es noch erleben, was dem alten Herzen wohlthut!“ Und als der Koffer geschlossen war, sprang sie lebendig davon, um einen Neger zum Hinabschaffen desselben herbeizuholen.

Lucy hatte der alten Dienerin den Brief zur Besorgung übergeben, die Kinder unter ihre sorgsame Obhut bis zur Zurückkunft des Majors empfohlen und ihr Gepäck auf den Wagen des eifrig zugreifenden Gemüsehändlers laden lassen. Zu ihrer Erleichterung war sie der Kinder nicht wieder ansichtig geworden und die Einladung ihres deutschen Freundes, den Sitz neben ihm einzunehmen, ausschlagend, wanderte sie rasch neben dem Fuhrwerke der Stadt zu. Nur eine kurze Zeit war sie in ihrer bisherigen Stellung gewesen, aber fast war es ihr, als müsse sie damit einer ganzen Lebenshoffnung Lebewohl sagen. Immer und immer wieder stieg das Gesicht des Majors in den verschiedenen Ausdrucksweisen, in welchen sie es hatte kennen lernen, vor ihr auf, und sie meinte schon seine Miene zu sehen, mit welcher er ihren Brief empfangen würde – ein Schmerz ging bei der letzten Vorstellung durch ihr Inneres, den sie sich selbst kaum erklären konnte, bis sie endlich an die Kinder dachte, die jetzt wieder ohne Freundin, ohne Mutter dastanden, und sie meinte nun ihre lebendigen Empfindungen zu verstehen.

Auf seinem Wagen saß der Gemüsehändler, sorgsam den Schritt seines Pferdes nach dem des Mädchens regelnd und immer wieder einen still beobachtenden Blick in ihr Gesicht werfend. Einige Male bereits schien er zum Sprechen anzusetzen, aber die Worte stets wieder zu verschlucken, bis die ausgedehnte Häusermasse der Stadt am Horizonte sichtbar ward. „Sehen Sie einmal dorthin, Miß,“ rief er, „dort wohnen mehr als hunderttausend Menschen, die alle ihren Lebensunterhalt finden, jeder in seiner Art, fein und grob; und es giebt Wenige, die nicht lustig sein könnten, Jeder in seiner Manier, wenn sie sich nicht selbst das Leben trübe machen also lassen Sie das Sinnen und Kopfhängen; was da hinter Ihnen liegt, ist abgethan, und nun frisch los auf’s Zukünftige. Was es werden soll, wird sich schon finden, und wenn Sie Eins thun wollen, so nehmen Sie sich das nächste Mal vor den Amerikanern in Acht!“

Lucy, aus ihren Gedanken gerissen, konnte nur einen freundlichen Blick nach ihrem Tröster hinauf werfen; an ihre Zukunft hatte sie noch kaum selbst gedacht, aber Eins fiel beruhigend in ihre Seele: die Stadt war groß, und mit ihren Kenntnissen durfte [751] sie wohl bald auf die Erlangung einer neuen, ihrer würdigen Lebensstellung hoffen. –

Es war am späten Nachmittag. Lucy war von der Wirthin des Hauses, dem ihr Beschützer sie zugeführt, mit einer Herzlichkeit aufgenommen worden, die ihr in ihrer augenblicklich ungewissen Lage doppelt wohl that, und die Erzählung des Gemüsehändlers von der Weise, mit welcher sie dem „Amerikaner“ ihre Stellung klar gemacht, war sichtlich nur dazu geschaffen, die Achtung der Frau vor ihr zu erhöhen. Beide schienen, einzelnen Aeußerungen nach, sie vor Allem die übele Aufnahme, welche sie bei ihrem ersten Eintritt in die Stadt gefunden, vergessen machen zu wollen. Es war ihr ein Zimmer zu ebener Erde, neben dem Wohnzimmer des jungen Ehepaars eingeräumt worden, und als endlich die mannigfachen Erkundigungen und Theilnahmsbezeigungen ihr Ende gefunden, hatte sich Lucy dahin zurückgezogen, sich in den Schaukelstuhl geworfen und überdachte, in den umzogenen Himmel vor ihrem Fenster blickend, ihre Lage und die nächsten für sie nothwendig werdenden Schritte.

Da klang ein Ton in dem anstoßenden Wohnzimmer, der wie elektrisch alle ihre Nerven berührte und sie aus ihrer bequemen Stellung aufschnellen ließ. Steif und mit angehaltenem Athem, alle Sinne in ihrem Ohre vereinigend, lauschte sie.

„Ich möchte Sie fragen, Sir,“ klang eine tiefe, sonore Stimme, und das war keine andere als die des Majors Wood – Lucy hätte nur eine Sylbe zu hören brauchen, um sie zu erkennen! – „ob Sie mir nicht sagen können, wohin sich die junge Dame gewandt, welche unter Ihrem Schutze mein Haus verlassen hat. Es ist mir von äußerster Wichtigkeit, sie noch einmal zu sprechen, und es liegt auch vielleicht in ihrem eigenen Interesse.“

„Mag wohl sein, Sir, daß es Ihnen von Wichtigkeit ist,“ ließ sich Reinert hören, „aber ich kann mir nicht denken, daß die Miß so schnell Ihr Haus geräumt und Sie in Unwissenheit über ihren Aufenthalt gelassen haben würde, wenn sie überhaupt noch Jemand aus Ihrer Gegend sprechen wollte. Ich denke, Sir, Sie lassen sie, wo sie ist, und machen ihr nicht mit Ihrer Anwesenheit neue Unannehmlichkeiten; sie hat deren schon genug gehabt, nur was ich mit angesehen –“

„Ich weiß es, Sir, wenn ich auch vor kaum einer Stunde erst davon in Kenntniß gesetzt wurde,“ folgte die drängende Antwort, „und ich bin nur gekommen, um ihr eine volle Genugthuung zu bieten. Seien Sie so freundlich, mir ihre Adresse anzugeben, und glauben Sie, daß Sie damit nur in Miß Hast’s Vortheile handeln.“

„Ich denke doch, wir lassen sie allein, Sir,“ erwiderte der Gemüsehändler in unzerstörbarer Ruhe, „ich habe genug gesehen, um zu wissen, um was es sich handelt, und glaube nicht, daß ihr mit neuen Auseinandersetzungen ein Gefalle geschehen kann.“

„Aber, Mann, Sie wollen doch nicht die Verantwortlichkeit auf sich nehmen, in eines Menschen Schicksal einzugreifen, wenn Ihnen gesagt wird, daß ein kurzes Gespräch von der höchsten Wichtigkeit ist?“ hörte Lucy des Majors fast leidenschaftliche Erwiderung, und sie wartete die Antwort ihres Landsmanns nicht ab. Mit einem ihr ganzes Innere durchlaufenden Beben, als stände sie vor der Entscheidung ihres Schicksals, erhob sie sich rasch und öffnete die Thür.

„Ich werde den Gentleman sprechen, Mr. Reinert,“ sagte sie, „er hat vielleicht das Recht, eine bestimmtere Erklärung, als ich sie zurücklassen konnte, von mir zu fordern. Uebrigens,“ setzte sie hinzu, ihrem etwas verdrießlich dreinschauenden Wirth die Hand reichend, „danke ich Ihnen herzlich für Ihre wohlgemeinte Sorge!“

Der Angeredete zuckte die Achseln. „Sie haben Ihren freien Willen, Miß, und ich werde Sie allein lassen,“ sagte er deutsch, sich nach der Thür wendend; „denken Sie aber nur daran, was mit den Amerikanern bis jetzt für Sie herausgekommen ist!“

Wood war bei ihrem Eintritt überrascht einen halben Schritt zurückgetreten und hielt jetzt, während das Mädchen mit einem gepreßten: „Setzen Sie sich, Major!“ einen Stuhl herbeirückte und sich selbst niederließ, die Augen wie in tiefem Forschen auf ihre bleichen gehaltenen Züge geheftet.

„Ich danke Gott, Miß,“ begann er, langsam den gebotenen Platz einnehmend, ohne eine innere Bewegung ganz verdecken zu können, „daß ich zeitig genug nach Hause kam, um Sie noch heute aufsuchen zu können; nachdem Ihr Fingerweis mich in den Stand gesetzt, eine volle Einsicht in die Lage der Dinge zu erhalten. Ich komme nicht, Miß, um Sie zu bitten, in Ihr altes Verhältniß zurück zu kehren, ich sehe ein, daß es keine Genugthuung giebt, die Sie dazu bestimmen könnte; aber ich möchte Sie fragen: Sind Sie wirklich mit blutendem Herzen gegangen, wie Sie mir schrieben? nehmen Sie so viel Theil an den Kindern, daß eben nur Ihre angetastete Ehre Sie vermögen konnte, ihnen wieder die Mutter zu entziehen? – und vor Allem eine Frage,“ fuhr er fort, den Blick tief und fest in ihr zitterndes Auge senkend, „bin ich Ihnen wohl selbst etwas geworden in der kurzen Zeit unseres Zusammenseins, so daß die Kraft, welche Sie allen Kränkungen entgegensetzten, nicht nur allein dem Gefühle für die einmal übernommenen Pflichten entsprang?“

„Major!“ rief sie, noch tiefer erbleichend, und wollte sich von ihrem Stuhle erheben, er aber hatte fest ihre Hand ergriffen und hielt sie zurück.

„Halt, Lucy,“ sagte er, „Sie sind kein gewöhnliches Mädchen, das in einer entscheidenden Stunde nicht frei zu einem Manne reden dürfte; wären Sie es, so sähen Sie mich nicht hier mit dem Gefühle, das ich Ihnen frei eingestehe, als sei mir das beste Gut meines Lebens verloren gegangen. Antworten Sie mir gerade und offen: Können Sie sich entschließen, den Kindern eine Mutter für Ihr ganzes Leben zu sein und mich mit dem, was in mir gut und schlecht sein mag, in den Kauf zu nehmen? Ich habe keine andere Genugthuung für Sie, wie für mich selbst, Lucy! Morgen steht mein Haus einsam, denn ich habe es von seinen bisherigen Regentinnen gesäubert – es war das Geringste, was ich für Ihre und meine eigene Ehre thun konnte, und daß die Nachbarn Ihnen volle Gerechtigkeit geben werden, dafür haben Sie selbst besser gesorgt, als Sie es vielleicht wissen. Sprechen Sie, Lucy!“ drängte er, ihre Hand zwischen der seinigen pressend, als sie ihn wortlos, mit seltsam unbeweglichen Zügen anstarrte.

In dem Mädchen aber war es bei seinen Worten aufgegangen, wie ein unendliches Glück, das doch nicht für sie in der Welt sein könne; was in ihr gelebt, seit sie ihre Stellung angetreten und sie über alle Kränkungen hinweggehoben, ihr selbst ein Räthsel, trat mit einem Male in voller Klarheit aus seiner Verborgenheit – die Liebe zu dem Manne vor ihr; was dieser aber sprach, kam so plötzlich, so überwältigend für sie, daß sie meinte, darunter erliegen zu müssen, und als er sie drängte: „Sprechen Sie, Lucy!“ fühlte sie, daß sie es nicht vermochte, es ward dunkel vor ihren Augen, und nur noch wie im Traume fühlte sie seinen Handdruck.

Als sie aber wieder ihrer Sinne mächtig ward, fand sie sich in seinen Armen, blickte sie in sein Auge, das bei ihrem Erwachen wie in vollem Glücke aufleuchtete, hörte sie seine tiefe, wohlthuende Stimme: „Ich wußte es ja, daß es so kommen mußte; hatten wir uns denn nicht beim ersten Blicke schon erkannt?“ –

Es war spät Abends. Draußen goß der Regen herab, wie am ersten Abend, an welchem Lucy eine Zuflucht in demselben Hause gefunden, und wieder lag sie mit wachen Augen in ihrem Bette und verfolgte das Geräusch der fallenden Tropfen auf dem Pflaster der Straße, wieder beobachtete sie die zitternden Streifen des Gaslichtes, welches von außen an die Wände ihres Zimmers fiel; aber heute ruhte sie auf den weichsten Kissen, welche im Hause sich hatten auftreiben lassen, der Regen trommelte einen Siegesmarsch, welcher ein hundertfältiges Echo des Glücks in ihrer Seele hervorrief, und an der Wand meinte sie lachende, tollende Kindergestalten sich entgegenblicken zu sehen. Und wieder stiegen einzelne Bilder aus ihrer erregten Seele vor ihr auf. Es war eine wunderliche Scene gewesen, als der Major den jungen Hauswirth herbeigerufen und gesagt: „Ich heiße Wood, Sir, wie Sie vielleicht wissen werden, und dieses hier wird morgen, wenn uns Gott das Leben schenkt, Mistreß Wood sein, die ich Ihnen auf Leib und Leben anempfehle, bis ich sie abholen werde!“ Der Eingetretene hatte erst, wie halb verdutzt, abwechselnd in die beiden Gesichter des Paares geblickt, dann aber dem Mädchen, wie in einer plötzlichen warmen Regung, die Hand entgegengestreckt und gerufen: „Meinetwegen, Miß, wenn Sie doch einmal nicht von den Amerikanern lassen können! Ich verstehe es nicht ganz, aber Jeder nach seiner Weise und tausendmal Glück! Sind Sie nicht zu meiner Hochzeit gekommen, so lade ich mich doch auf die Ihre ein, denn so halb und halb schein’ ich doch wohl selber dazu geholfen zu haben!“ – Und dann trat das Bild des Majors und jede einzelne Scene, die sie mit ihm durchlebt, vor ihren Geist; sie sah ihn wieder am Gartenhause stehen, und Mary’s Erscheinung stieg auf – jetzt hatte [752] der Ort seinen eigenthümlichen Schrecken für sie verloren, die unsaubern Geister waren gebannt, und nur in einer Wehmuth, welche ihr eigenes Glück sie um so tiefer empfinden ließ, gedachte sie des Opfers treuer Liebe. Kaum des sie überkommenden Schlafs bewußt, entschlummerte sie endlich, den Gedanken an den hellen, strahlenden Morgen, der sie erwartete, mit in ihre Träume nehmend.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ihr