Textdaten
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Autor: Victor Blüthgen
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Titel: Überraschungen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51–52, S. 871–874, 883–888
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
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Ueberraschungen.

Eine Weihnachtserzählung von Victor Blüthgen. Mit Abbildungen von W. Claudius.

Ein tiefverschneites nordost-deutsches Landstädtchen um Weihnachten – man kann sich’s leicht vorstellen. Vor dem Ostthor, das längst niedergerissen ist, hat sich der Weg mit einer Anzahl kleiner Villen besiedelt, deren fragwürdiger Baustil jetzt durch kein Baumgrün verschleiert und gewissermaßen entschuldigt wird, und deren Farbe durch den Gegensatz des leuchtenden Schnees schmutzig erscheint . . . nun, heut gerade, am 24. Dezember, steht es nicht so schlimm damit, denn es ist vom frühen Morgen an so nebelig, daß Schnee und Häuserfarbe, wie die Maler sagen, „zusammengebracht“ werden. Die Villen liegen an der Landstraße, und diese Landstraße führt in etwa einstündiger Fahrt zum nächsten Bahnhofe; dies die Erklärung, weshalb sich das behagliche Leben hier im Osten, nicht wie sonst in der Regel im Westen des Ortes angesiedelt hat. Außerdem hat man hier allerdings auch an hellen Tagen den Ausblick auf einen mitten in Aeckern liegenden, schilfumsäumten kleinen See, ein fernes Stück Wald und eine noch fernere Hügelkette.

Doch das ist für unsere Geschichte nicht von Belang; wohl aber, daß die ganze Gegend im übrigen beinahe völlig flaches Ackerland aufweist.

Und das liegt heut im Nebel – Nebel – Nebel . . .

Die letzte Villa ist die jüngste. Sie gehört „Bussens“, wie man im Ort vertraulich sagt, denn man kannte die Familie schon lange, ehe sie sich am Ort anbaute; sie besaßen früher Tempelwiese, ein Gut in halbstündiger Entfernung. Weshalb Busse verkauft hatte? Ein Lieutenant, der durch eine Heirath reich geworden war, hatte durchaus Grundbesitzer werden wollen und dem Tempelwieser ein gutes Gebot gemacht; außerdem war Busse schon bei Jahren, zu gemüthlichem Leben geneigt, sein Sohn Erich aus dem Hause – bereits Referendar –, seine Tochter Sibylla oder „Billa“, wie sie in der Familie hieß, achtzehn Jahr alt, also auf dem Punkte, um gleichfalls demnächst am Arme irgend eines Bewerbers zu entschwinden. Was soll man da noch lange auf einem Gute wirthschaften? Frau Busse war ganz der nämlichen Ansicht.

Die Einrichtung in der Busseschen Villa sah einigermaßen zusammengewürfelt aus, alter Hausrath vom Gute und moderne Prunkstücke durcheinander. Man hängt nach mehr denn zwanzigjähriger Ehe an dem alten Gerümpel! Vater Busse las da beispielsweise am Fenster seine Zeitung nach dem Morgenkaffee in dem nämlichen altfleckigen Lederstuhl, der, so hochlehnig und so hart gepolstert, Jahre und Jahre bereits seine Ruhe bedient hatte. Ein richtiges verwettertes, beinah bäurisches „Oekonomengesicht“, etwas bärbeißig, etwas überlegt verschlossen, im Grunde gutmüthig. Jetzt hob er die scharfen stahlblauen Augen und sah seine Frau an, welche eben aus dem geräumigen „Gartensaal“ in das Familienzimmer trat mit der Miene einer eifrig Beschäftigten.

„Hast Du auch wirklich an Erich geschrieben, daß er und der Landow sich auf der Station einen Wagen nehmen sollen, Lottchen?“ fragte er in halbem Platt. „Sonst wäre ich doch dafür, daß wir den alten Pötter ’nüberschicken.“

„Ach gar! Laß dem alten Manne seine Ruhe heute! Freilich habe ich wegen des Wagennehmens geschrieben! Wenn sie nur den Zug nicht verpassen, das ist meine einzige Sorge. Ich bin gar nicht dafür, daß man immer den letzten möglichen Zug nimmt!“

„Na, dafür wird der Landow wohl sorgen!“ meinte der Hausherr mit leichtem Augenzwinkern. „Hat denn die Schulzen die Guirlande schon geschickt? Es war mir doch, als ob vorhin das Mädchen von ihr gekommen wäre. Das ist aber auch ein Nebel draußen, daß man von hier nicht bis an das Gitter sehen kann. Mir wird es ordentlich schwer, hier zu lesen.“

„Ja, die Guirlande ist da. Ich bin bloß froh, daß die Billa oben in ihrer Stube ist und nicht zufällig aufgemacht hat.“

„Na, ’nen Spaß giebt das doch! Wenn’s denn mal sein soll – und Du hast Dich ehrlich dafür ins Zeug gelegt, Lottchen, das muß wahr sein – dann gefällt mir’s auf diese Art am besten. Ich will bloß wünschen, daß das Kind die Ueberraschung gut verträgt. Sie ist mir so merkwürdig all die Tage her vorgekommen. Was hatte sie heute beim Frühstück wieder für rothe Augen!“

Frau Busse, die inzwischen in einem aufgeschlossenen Schrank zehn Schubladen auf- und wieder zugeschoben hatte, nickte etwas zerstreut. „Ich bin wahrhaftig froh, daß ein Ende wird. Das Kind ist von so heftiger und leidenschaftlicher Gemüthsart –“

„Von mir hat sie das nicht!“ lachte Busse mit gutmüthigem Spott auf.

Rasch fuhr ihr Kopf herum und die braunen Augen blitzten ihn an. „Na – komm Du mir heute so!“ Sicherlich, Frau Busse war eine energische kleine Frau und sie hatte sich in der Ehe die Butter nicht vom Brot nehmen lassen, obwohl sie keinen Heller Geld mitgebracht hatte – aber Bildung! Sie war eine Pastorstochter aus kinderreichem Hause, und sie war einst sehr hübsch gewesen und hatte reichlich „Temperament“, als der Gutsherr von Tempelwiese sie heimführte.

„Na, na,“ begütigte er. „Nun quäl’ Dich aber auch nicht so allein ab mit der Bescherung! Was hat die Billa oben herumzusitzen? Hol sie Dir herunter zum Baumanputzen, das bringt sie auf andere Gedanken. Der Nette unten“ – das war das Faktotum, welches sich Busse von Tempelwiese mitgenommen hatte – „liegt auch bloß am Ofen herum.“

„Das verstehst Du nicht. An den Christbaum lasse ich keine fremden Hände, das ist Familiensache; und was die Billa betrifft, so hat sie noch an ihren Weihnachtsarbeiten zu thun, wie sie mir gesagt hat.“

„Ich pfeif’ auf die alte greuliche Weiberquälerei mit Weihnachtsarbeiten –“

„Und freust Dich doch, wenn Du welche bekommst. Und nun lies Deine Zeitung und kümmere Dich nicht um meine Sache.“

„Wart, Katze, da hast ’nen Fisch!“ lachte er gemüthlich. Sie ging wieder in den Saal, eine Wolke Harzduft hereinlassend. Er schmunzelte auf seine Zeitung nieder, sah dann aber in den Nebel hinaus, wo schattenhaft sichtbar das Dienstmädchen, die Annemarie, und die Frau Nette Bretter voll Kuchen auf den Köpfen angeschleppt brachten. „Nun will ich bloß wünschen, daß sie gerathen sind,“ brummte er. Darauf las er wieder, zuweilen mit weiten Nüstern den Kuchenduft einziehend, der sich im Hause verbreitete.

Im Ofen sauste und krachte das so behaglich …

Da öffnete sich die Thür vom Flur her, und er gewahrte, daß es Billa war, die eintrat. Ein hübsches Geschöpf, zierlich, fast mager, den Kopf schwer voll braunen Haars, welches vorn kraus die halbe Stirne deckte und damit stark die nervöse Blässe des schmalen Gesichtchens hervorhob. Sie trug den Kopf steif aufgeworfen und sah aus wie jemand, der nach viel innerem Leiden einen trotzigen Entschluß gefaßt hat. So schritt sie, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, mit einer Handarbeit auf den Ofen zu, warf sich mit Entschlossenheit in den nächsten grünen Plüschsessel und griff, nachdem sie ein paar Sekunden wie abwesend in die Luft gestarrt und nun tief Athem geholt hatte, zur Nadel.

„Na, Lütting,“ warf Busse hin, der ihr mit innerer [872] Belustigung zugesehen hatte, „hast Du Deine Stickschuhe bald fertig? Das wär ja wohl das erste Mal, daß Dein Bruder seine Sache auf Heiligabend fertig zu sehen bekäm’!“

„Man thut, was man kann,“ sagte sie kühl und ein wenig schnippisch. Ihre Sprache hatte etwas Müdes – in der That, die Augen waren geröthet, matt – jetzt blinzelten sie, und Billa fuhr auffallend schnell gegen den Ofen herum und bückte sich höchst angelegentlich auf die Stickerei hinab.

„Es wäre wunderbar genug, wenn ich zu diesem Weihnachtsfest mit Vergnügen sticken würde,“ fuhr sie nach einer Weile fort.

Ueber das Gesicht des Vaters zuckte es.

„Na, na – gieb Dich nur, Döchting! Das ist doch nun ’mal nicht anders und Du mußt doch auch endlich ’mal ein Einsehen haben. Wenn man so’n Kiekindiewelt ist wie Du, dann möchte man wohl dies und das, aber ob das auch richtig ist, das kann man mit Deinen achtzehn Jahren noch nicht genau wissen. Dazu hat man seine Eltern, die sich so ’ne vierzig, fünfzig Jahre den Wind haben um die Nase wehen lassen. Ich möcht’ bloß ’mal wissen, was aus Dir geworden wäre, wenn ich Dir immer Deinen Willen gethan hätte. Es wäre Dir nicht ein einziges Mal eingefallen, die Arzenei aus der Apotheke einzunehmen, wie Du ein paarmal so schwer krank gewesen bist. Jung und verständig wohnt nicht beikommen, das ist all so.“

„Natürlich, Du hast recht, Vater! Eltern haben überhaupt immer recht!“

„Haben sie auch, Döchting! Hier liegt das doch auf der flachen Hand: er hat nichts und ist ein gelernter Landwirth. Nun rechnet er wohl darauf, daß ich Euch ein Gut kaufen oder pachten soll; aber da gehört viel baar Geld zu, und ich kann das doch nicht so weggeben und riskiren, daß es flöten geht und daß ich auf meine alten Tage mit der Mutter selber nicht auskomme. Wenn er etwas anderes wäre, wollte ich ja nichts sagen; aber so als Landwirth, wenn man nichts Ordentliches in der Hand hat, ist das eine elende, klötrige Sache. Das muß ich doch besser verstehen als so’n Mädchen, das sein Lebtag nichts gethan hat als gesungen und gesprungen.“

„Ich habe nichts von Dir gefordert; wie wir auskommen, das wäre unsre Sache gewesen. Wenn wir sorgen und hungern wollen – wen quält das, Euch oder uns?“

Busse machte große Augen. „Oho, das geht uns denn doch was an! Dafür haben wir Euch nicht großgezogen, Lütting. Wir haben von Gottes- und Rechtswegen die Sorge auf uns, daß Ihr gut durchkommt im Leben. – Und nun komm ’mal her zu mir, Du altes großes Mädchen; die Liebe ist wie das Feuer, das geht auf und ab, zuletzt verbrennt auch ein Scheffel Kohlen, wenn nicht nachgeschüttet wird.“

Er lehnte sich gemächlich in seinem Stuhle zurück und sah erwartungsvoll zu ihr hinüber. Und sie stand wirklich auf, langsam, legte ihre Stickerei in den Sessel und ging auf Busse zu. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehen, bleicher als vorher, aber die matten Augen brannten jetzt und waren trocken.

„Vater, ich habe mir vorgenommen, noch einmal ernst mit Dir zu reden. Darum bin ich heruntergekommen.“

„Vater, ich habe mir vorgenommen, noch einmal ernst mit Dir zu reden.“

„Das Reden hilft Dir doch nichts, Döchting, das ist doch nun ’ne abgemachte Sache; nun laß doch sein, was nicht zu ändern ist!“

Der kleine volle Mund spannte die Lippen so fest ein und es lag ein Zug so feierlicher Bestimmtheit auf dem blassen Mädchengesicht mit dem hübschen Stumpfnäschen und den großen braunen Augen, wie sie weitersprach:

„Ich erfülle eine Pflicht, ich thue, was ich muß, wenn ich Dich noch einmal – das darfst Du glauben, es ist das letzte Mal! – bitte: Gieb mir den Adolf! Ich lasse nie von ihm, das steht so fest wie Himmel und Erde, und es fragt sich sehr, ob Du nicht mehr Unglück anrichtest, wenn Du nein, als wenn Du ja sagst, selbst im Fall mein Leben danach ein schweres werden sollte. Wir wollen nichts von Euch haben, als Euer Jawort. Vater, brich mich nicht innerlich entzwei, ich kann ohne ihn nicht sein – gieb ihn mir!“

Sie schloß mit einem leidenschaftlichen Gefühlsausbruch, ein Schluchzen überwältigte sie und sie sank bei dem Vater nieder und legte sich auf eins der vorgestreckten Kniee und sah ihn mit schwimmenden Augen an.

Er rückte unwillkürlich mit den Füßen, warf die Zeitung bei Seite und sagte betroffen: „Donner und Diez, reden kannst Du für den Landtag, Dirn! Du hast mir zuviel gelesen, und ein rabiates Ding warst Du von klein auf. Sei nicht unklug, mit dem Kopf durch die Wand geht’s nicht. Selber bei unserm Herrgott hilft kein Bitten, wenn er einmal eingesehen hat: anders ist’s besser. E…hm!“ – er räusperte sich ein paarmal, wobei er hilflos suchende Blicke nach der Saalthür warf. Dann schlug er plötzlich einen rauheren Ton an.

„Ich will Dir was sagen: entweder Deine Eltern haben sich’s ordentlich überlegt, und haben sie nein gesagt, so bleibt’s dabei, wenn – –“

Die Gedanken ließen ihn im Stich, vielleicht auch die Widerstandskraft; er stieß murrende Laute des Unmuths aus, nahm die Hände des Mädchens unsanft von den Knieen und erhob sich. Auch Billa stand auf.

„Es bleibt dabei, Vater –?“

„Ja!“ rief er heftig zurück, denn er war bereits auf dem Wege nach der Saalthür.

Da stand sie – schlug die Hände vor das Gesicht – und ließ sie wieder hinab und starrte durch die Scheiben ein paar Sekunden in die Nebelluft, die schmalen blassen Hände zusammengepreßt.

„Gut!“ sagte sie zwischen den Zähnen und ging wieder aus der Stube in ihr Zimmer hinauf. Die Stickerei für Erich blieb in dem grünen Plüschsessel liegen und die Lichter aus dem Ofen liefen drauf hin und wieder.

„Die Billa ist rein des Teufels,“ berichtete Busse kopfschüttelnd nebenan bei der Hausfrau, halb lachend, halb aufgeregt; er hatte das Taschentuch aus seinem Flausrock gezogen und fuhr sich damit über das spärliche ergraute Haar auf der hohen lichten Stirn. „Hast Du’s hier verstanden? Ich habe mir nicht anders zu helfen gewußt, als daß ich davonging; ich glaube, ich wäre sonst herausgeplatzt und hätte uns den Spaß verdorben. Lotting, die kann einem noch mehr zusetzen als Du in Deinen besten Jahren; ihr Adolf kann sich auf was gefaßt machen.“

„Karl, sei nicht albern; Du hast Dich nicht zu beklagen gehabt. Was die Billa betrifft, so habe ich so ziemlich gehört, was Ihr zusammen gesprochen habt; aber ich hatte nicht Lust, mich drein zu mischen. Du weißt, daß ich über Billas Wünsche nie so schroff gedacht habe wie Du – da steh Du auch für Dich ein! Ich habe Dir immer gesagt: Billa ist ein leidenschaftliches Geschöpf, und man weiß nie, wozu ein solches Mädchen in der Verzweiflung fähig ist. Ich wollte, es wäre erst soweit, daß wir die beiden hier hätten, mir wird nicht wohl bis dahin.“

Busse lachte etwas gezwungen, während er zusah, wie die geschickten Hände der Gattin hier eine vergoldete Nuß, dort einen Zuckerkandis-Eiszapfen in die Zweige befestigten.

„Na weißt Du,“ meinte er endlich, „bis zum Abend wird sie’s wohl aushalten. Ins Wasser kann sie bei der Jahreszeit nicht gut gehen, und Gift und Pistolen hat sie, wie ich glaube, nicht oben.“

[873] „Mann – pfui!“ – einer der Eiszapfen fiel aus ihren unsicher gewordenen Fingern und zersplitterte auf der Diele – „versündige Dich nicht! Du kannst immer soviel väterliches Gefühl haben, daß Du einiges Mitleid mit Deiner einzigen Tochter empfindest! Danke Gott, daß Dich niemand im Leben so gequält hat, wie wir sie gequält haben! Jetzt geh mir ab!“

„Sei gut, Lotting –“ er hatte die sich Sträubende in den Arm genommen – „Du weißt ja, daß ich noch keiner von den Schlimmsten bin. Nun gieb mir ’mal ’nen Kuß auf Deine alten Tage!“

* * *

Billa war in ihrem niedlichen Mädchenstübchen angelangt. Da war alles so kattunbezogen licht und zart, so ganz Tand und Toilette, selbst die Goldschnittbibliothek in dem aufgehenkten Wandbrett.

Und doch – die arme Billa war sehr ernst. Nicht verzweifelt, nicht leidenschaftlich, nicht zu Thränen gestimmt: sie wußte nur, was sie thun wollte, und das andere lag hinter ihr.

„Halb vier wird’s dunkel,“ sagte sie zwischen den gepreßten Lippen. „Jetzt ist’s“ – sie zog ihre zierliche Golduhr – „halb elf. Das reicht. Um sechs geht der Zug – ich werde von der Station an Magda telegraphiren, daß sie mich abholt. Mit Erichs Zug wird sich der meine hinter Stresow kreuzen – ich will ihm eine Kußhand hinüber werfen. Ach Gott . . . “

Sie hielt wieder die Hände vor das Gesicht; nur Sekunden, dann war die weiche Empfindung vorüber. Sie entnahm mit energischer Bewegung dem Schranke Pelzjacke, den Bibermuff und das Barett – in einer Minute war sie Ausgehen fertig.

Sie stieg so leise wie möglich die Treppe wieder hinab – unbemerkt verließ sie das Haus. Sie vermied es, nach dem Fenster zu sehen, wo der Vater zu sitzen pflegte – nur rasch hinaus, in den bergenden Nebel. So, da war sie vorüber, auf dem gefegten und doch unterm Schritt knirschenden Trottoir. Sie sah nur soviel im Nebel, daß sie die Richtung innehalten konnte, nicht viel mehr. Ein paar Menschen, die ihr in der Stadt begegneten, kamen und entschwanden wie Schemen. Der Tannen- und Kuchengeruch aus den Häusern schien vor jedem festgelagert zu sein, so hielt ihn der Nebel. Sie hatte nicht sehr weit zu gehen – eine Seitengasse, und wieder eine Seitengasse. Dann mußte sie spähend von Haus zu Haus schreiten, um das niedrige graue Ding mit dem großen Dach und den rothbraunen Läden zu finden, das den alten Pötter beherbergte.

Pötter war Milchfuhrmann – er hatte lange Jahre die Milch aus Tempelwiese abgeholt; aber er besaß auch einen alten Kaleschwagen und einen Schlitten und fuhr jedermann nach der Bahn, der zahlte. Eine alte ehrliche Haut, vertraut mit den Tempelwieser Kindern – sehr phlegmatisch und langsam, aber gefällig und verschwiegen.

Nun hatte sie die Thür aufgeklinkt und stand in der Küche vor Pötters Ehehälfte. „He, du lieber Gott, Fräulein, das ist ja noch ’ne Ehre zu Heiligabend – suchen Sie meinen Mann? Der ist drin in der Stube; aber er raucht seine kurze Pfeife schon den ganzen Morgen, und das wird drin wohl noch ein ärgerer Dampf sein als draußen . . . Jochen, komm mal in die Küche, Bussens Fräulein ist hier!“

Das junge Mädchen stand bebend da und sagte nichts. Es hing alles davon ab, daß der alte Pötter sie heute fuhr. Langsam – langsam kamen die schweren Tritte zur Thür . . .

„Je ja, Fräulein, was thun Sie denn bei uns heute? Ist der Herr Bruder noch nicht da, daß ich ihn von der Bahn abholen soll?“

„Wohl, Alt-Pötting,“ sagte sie hastig, „Ihr sollt nach der Bahn fahren, aber – aber nicht ihn holen; Ihr sollt mich nachmittags bei Dunkelwerden hinfahren und dann wieder umkehren; es soll eine Ueberraschung geben,“ schloß sie, und es flog roth über ihr feines blasses Gesicht.

Dann geht sie – leise – die Tasche in der Linken.

„’Ne Ueberraschung; ja, das will ich wohl thun, weil Sie’s sind, denn das ist heute kein Vergnügen, zu fahren. Dann muß ich aber den Schlitten nehmen, denn das ist ein schwer Fahren mit der alten Kutsche bei dem Schnee; ich habe nur ein Pferd davor. Wann soll denn das losgehen?“

„Um vier Uhr, denke ich.“

„Schön; soll ich denn draußen vor Ihrem Hause halten?“

„Nein, nein – ich warte am Ostthor. Welche Zeit ist es auf Eurer Uhr?“

„Da hängt sie –“ die Frau deutete auf die Schwarzwälder an der Küchenwand. Billa verglich die Zeit auf ihrer Uhr.

„Meine geht fünf Minuten vor. Fahrt punkt vier von hier ab, Pötting; wollt Ihr?“

„Ich werde schon dafür sorgen, Fräulein,“ nickte Frau Pötter. „Er ist all was langsam.“

„Dann adjüs! Ich verlasse mich drauf. Haltet vor Schneiders, damit wir uns im Nebel nicht verfehlen!“

Und draußen war sie, und die Frau Pötter sagte hinterher: „Nein, was das lütt Ding blaß aussah! Sie wird doch gesund sein? Ich weiß bloß nicht, wie sie die Decken all in den Schlitten schaffen will, wenn das ’ne Heimlichkeit sein soll. So kann sie doch nicht fahren! Ich will alle Tücher in den Schlitten thun und Deinen alten Pelz auch, Vatting.“

Billa ging nach Hause, das Herz wenigstens in diesem Punkt erleichtert. Der Vater saß richtig wieder am Fenster, aber er sah nicht heraus. Doch im Hausflur stieß sie auf die Mutter, und der fragende Blick derselben erregte ihr ein entsetzliches Herzklopfen.

„Ich habe noch Besorgungen, Mutter; wundere Dich nicht, wenn ich noch ein paar Gänge heute mache.“

Es war ihr gelungen, das scheinbar ruhig zu sagen. Dann stieg sie langsam – das Herz that ihr völlig weh, so pochte es – die Stufen hinauf. In dem warmen Stübchen oben preßte sie die Hand auf die Brust. O – – nun gab es sich schon. Sie legte ab, suchte auf dem Boden des Schrankes – da lag die Tasche, in der sie allenfalls das Nöthigste unterbringen konnte für die Reise. Koffer und Kisten mitnehmen, das ging ja jetzt nicht. Sie mußte sich in der Residenz einiges neu kaufen. Gott sei Dank, daß sie dort eine Pensionsfreundin besaß, die weder Vater noch Mutter, sondern nur ein Anstandsfräulein bei sich hatte! Und Gott sei Dank, daß sie eine sehr, sehr volle Sparbüchse ihr eigen nannte! Im übrigen kehrte Erich in die Residenz zurück, und mit ihm ließ sich im Nothfalle über weiteres reden.

„Zurück in das Elternhaus auf keinen Fall! Wenigstens nicht so . . . !“

Billa schloß die Tasche auf und packte – überlegte, wählte und packte wieder. Nur nichts Unnöthiges! Nur nichts, was man sich billig neu kaufen kann! Da ist die Sparkasse – gleich den ganzen Bettel eingepackt. Das Reisegeld ins Portemonnaie . . .

Sie öffnete das zierliche rothe Plüschtäschchen und nickte befriedigt.

Die Mittagsstunde war nahe, man aß bei Busses pünktlich um zwölf Uhr, eine Viertelstunde fehlte noch. Billa warf sich in den Schaukelstuhl und träumte – unruhig bewegte sie die Schaukel. Sie sprang auf, legte sich wieder in den Stuhl und träumte weiter. Ihr Mädchenkopf versuchte noch einmal auszudenken, wie ihre Zukunft sich gestalten sollte.

„Adolf muß sorgen. Er muß eine Stelle finden, auf der es wenigstens nicht unmöglich ist, auszukommen. Er ist ein so großer, kluger, tüchtiger Mensch. Weiter ist eigentlich nichts nöthig. Vielleicht geben die Eltern auch nach. Aber wenn [874] nicht – nun gut! Lieber alles leiden, als so zu Grunde gehen, mit dem blutenden wilden Herzen, mit den Aufregungen und schlaflosen Nächten.“

Was weiß ein so junges Geschöpf von Gesetzen und elterlichem Recht!

Billa wird gerufen und geht zu Tische hinunter. Sie erscheint gefaßt – blaß und still und wortkarg freilich, doch Vater Busse, der prüfende Seitenblicke auf sie wirft, ist befriedigt und zwinkert der Mutter höchst verschmitzt zu. Aber nur blitzartig kurz, dann legt er das Gesicht wieder in die ruhigen Falten wie ein rechter Komödiant. Die Mutter fragt Billa, ob sie ihr nachher etwas zurichten helfen will, allein Billa lehnt ruhig ab: sie hat noch soviel zu thun, um mit ihrer Bescherung fertig zu werden.

„Eine schöne Bescherung . . . !“ fällt ihr ein, und es zuckt fast wie der Anfang eines Lächelns um ihren Mund. Nur die großen braunen Augen bleiben gleichmüthig und trübe.

Sie wünscht „gesegnete Mahlzeit“ und geht – sie hat zuletzt wie auf Kohlen gesessen, so eilig hat sie’s. Und oben ist sie so müde – so abgespannt. Sie liegt eine halbe Stunde im Schaukelstuhl, in einer Art Halbschlaf.

Jetzt ist’s höchste Zeit! Sie muß noch einen Abschiedsbrief schreiben. Die Eltern müssen erfahren, was sie gethan hat, warum sie’s gethan . . . man darf nicht den ganzen Abend nach einer spurlos Verschwundenen suchen . . .

Die Aufregung, die sie mit widerstreitenden Empfindungen plötzlich wieder durchflammt, jagt sie auf. Da steht der nette kleine Vertraute ihrer Gedanken, ihrer Mädchenfreundschaften, ihrer Mädchengeheimnisse, so dünnbeinig mit dem schmächtigen Mahagonileibchen: ihr Schreibtisch – die bronzirte Feder mit der goldenen Schreibspitze darauf, und die Schreibmappe mit der Holzmalerei (eigene Pensionsarbeit) und dem Elfenbeinaufschlitzer . . . nun wohlan: ein letztes Schreiben wahrscheinlich an dieser von Erinnerungen geweihten Stätte. Sie schlägt hastig die Mappe auf, nimmt die Feder, taucht sie trotzig ein – und legt sie wieder hin und bricht in Weinen aus.

Nein – dieser Vater verdient es nicht, dieser Barbar! Eigentlich gelten diese Thränen auch allem möglichen . . . also tapfer schreiben! Und die Goldspitze fliegt nur so über das Papier. Der erste Bogen wird natürlich zerrissen, der zweite gleichfalls. Man darf sich gegen Eltern doch nicht gar zu weit von seiner Leidenschaftlichkeit hinreißen lassen!

Und nun Goldsand drauf, und nun fort! Ach du liebes, warmes, duftiges Zimmerchen im grauen Nebellicht . . .

Halt, noch eine Nachschrift!

„Adolf ist unschuldig an diesem Schritt und weiß vorläufig noch nichts davon. Ich will nicht, daß man ihn unschuldigerweise mit verantwortlich macht für das, was ich thue.“

Sie kleidet sich für die Fahrt an wie für einen Ausgang in die Stadt; dazwischen wischt sie sich die Augen ab – aber nun ist sie ganz entschlossen, ganz Trotz . . .

Ach, sie muß noch einmal umkehren. Sie hat ja vergessen, die Schreibtischschlüssel abzuziehen! So viele vertrauliche Mittheilungen von Freundinnen liegen in den Fächern dort, und sie hat nur ein paar Briefe von Adolf eingepackt. Aber vielleicht ist es besser, noch eine Nachschrift aufzusetzen:

„Ich hoffe, daß man meinen Schreibtisch verschlossen und die Briefe meiner Freundinnen ungelesen lassen wird. Von Adolf ist nichts darunter.“

Sie zündet mit einem plötzlichen Einfall noch die Lampe an, nachdem sie die letzten Zeilen geschrieben hat, fast ohne etwas davon zu sehen. Dann geht sie – leise – die Tasche in der Linken, mit der Rechten am Geländer tastend – niemand begegnet ihr.

Nun ist sie draußen im Nebel, in einer seltsamen Dämmerung, welche das umherirrende Schneelicht verursacht. Kein Blick nach den elterlichen Zimmern. Vor ihr glotzen fern und ferner ein paar verschleierte Feuerballen von Straßenlaternen. An der ersten schaut sie noch einmal auf die Uhr: schon ein paar Minuten über die Zeit . . .

Da hält Alt-Pötting; ein paar Glöckchen klingen.

„Na, Fräulein, dann kann das losgehen! Meine Frau hat vorgesorgt, daß Sie nicht frieren, weil Sie doch bei einer Ueberraschung nicht viel Sachen mitschleppen können. Nun wickeln Sie sich nur gut ein!“

„So, Pötting, nun zu!“

Und der klingelnde Schlitten schurrt in die Winternacht, in den Nebel hinaus.

Am elterlichen Grundstück wirft die Scheidende verstohlen eine Kußhand zu den hellen Fenstern hinüber und bückt sich dann tief auf ihren Muff herab.

[883]
Ein einziges Mal hat man das Dienstmädchen zu Billa hinaufgeschickt, sie möge zum Kaffee und zur Kuchenprobe herunter kommen.

„Fräulein ist nicht da, aber die Lampe brennt,“ ist der Bescheid, den das Mädchen zurückbringt.

„Wir wollen sie nur lassen,“ meint Frau Busse. „Am Ende hat sie noch einen kurzen Gang in der Stadt gethan; die Handwerker werden ja Weihnachten mit den Aufträgen gewöhnlich erst in der letzten Stunde fertig, und dann muß man sie noch drängen.“

„Es ist nur, daß sie nicht zur Unzeit herunter kommt. Dreiviertel acht schicke jedenfalls noch ’mal hinauf und laß ihr sagen, [884] sie soll so lange oben bleiben, bis sie gerufen wird; Erich würde hinauf kommen und sie begrüßen.“

Dreiviertel acht geht dann also Annemarie hinauf. „Es ist wieder niemand oben zu sehen, die Lampe brennt noch immer,“ berichtet sie abermals.

„Das ist dumm,“ brummt Busse ärgerlich. „Wenn uns der Teufel ein Bein stellt, kommt sie gerade aus der Stadt, während die Jungens draußen halten. Nun kommt man aus der Unruhe nicht heraus. Wird das mit der Ueberraschung nichts, dann ist mir der ganze Abend verdorben. Hast Du denn alles soweit fertig, Lotting?“

„Du kannst Dir’s ansehen – Deine Sachen habe ich noch nicht aufgelegt.“

Und Bussens gehen beide in den Saal. Da steht beim Scheine einer Lampe der Quertisch mit dem noch dunklen, flimmernden und funkelnden Baum, rechts und links herlaufend zwei weißgedeckte, vollbelegte Längstische; in dem eingeschlossen Raum aber, hart unter dem Weihnachtsbaum, ein Korblehnstuhl, mit einer Guirlande geschmückt . . .

„Ein Hauptspaß!“ sagt Vater Busse händereibend. „Das ist ein zu netter Einfall von Dir, Lotting. Die Augen, die das alte gute Mädchen machen wird! So’n Glück und so’n Weihnachtspräsent! Weißt Du was, Lotting? Das nächste Mal lege ich ihnen eine hübsche Pachtung auf den Stuhl. Ich habe schon so was auf dem Rohr.“

„Jetzt müssen sie doch jeden Augenblick kommen,“ meint die Mutter.

„Ich werde den Nette oder seine Frau aufpassen schicken; am Thor müssen sie ja die Billa abfangen.“

Er geht hinaus. Die Mutter faltet die Hände und sieht ihr Kind vor sich, das sie glücklich machen will. Im Hausflur hört man Busse rufen, dann mit Nette sprechen . . . ein fernes Klingeln . . .

„Sie kommen, glaube ich,“ ruft Nette von der Hausthür, und Busse, der eben wieder vom Flur her in den Saal treten will, läßt die Thür halb offen stehen und macht kehrt, und die Mutter lacht über das ganze energische und kluge Gesicht und bindet die Schürze ab.

Wahrhaftig! da hält das Klingeln an vor dem Hause, und es ertönen bekannte Stimmen: Erichs „Guten Abend auch, Vatting“ . . . eine andre Stimme, die gleichfalls nicht fremd ist, denn der Vater des jungen Landow war einst Verwalter auf dem gräflichen Vorwerk, eine halbe Stunde von Tempelwiese, gewesen und die Kinder hatten herüber und hinüber miteinander gespielt; Billa und der junge Landow sind eigentlich schon wer weiß wie lange halb verlobt. Und die Mutter tritt unter die Thür.

„Guten Abend, lieber Erich“ . . . „Guten Abend, Mutting“ . . . „Nein, wir brauchen nicht so leise zu sprechen, Billa muß in der Stadt sein . . . nun, sei mir als Sohn willkommen, mein guter Adolf; das Glück macht ja niemand todt, sonst hätte ich Angst, unsre Bescherung könnte schlecht ablaufen. Das Mädchen hat sich gehabt die Zeit her, daß es einen gejammert hat . . . “

Sie waren alle im Komplott; nur Billa hatte nichts davon gemerkt, daß die Mutter endlich dem Vater die Zustimmung zu der Verlobung abgerungen hatte, daß man ihr einen Bräutigam bescheren wollte! Die Mutter führte den großen starken Menschen, der an ihrem Arm zitterte, in den Saal zu dem bekränzten Korbstuhl. „Nun setz’ Dich, sprich nichts, steh’ nicht wieder auf! Du bist ein Geschenk, ein Packet!“

Erich drückte ihn lachend in den Stuhl; „jetzt eine Stolle in den Schoß,“ sagte er. Er war noch der reine Corpsstudent, schlank und hübsch, mit Schmarre und Schnurrbärtchen, wie sich’s gehört. Landow legte den Hut in den Schoß und strich sich über das schwarze Schlichthaar und drehte an den Schnurrbartenden, und in den treuherzigen braunen Augen glänzte es feucht.

„Herrgott, Erich, dreh Dich herum! Junge, Du siehst ja alles“ – die Mutter schob ihn selber herum und auf die Wohnzimmerthür zu. „Karl, Du auch – marsch, hinaus, ich will für Dich aufbauen. Sowie Billa kommt, kann’s losgehen. Mein Theil könnt Ihr später aufbauen oder als Julklapp werfen!“

Landow zog die Handschuhe aus und warf sie in den Hut; er lächelte bewegt zu der Mutter „seiner Braut“ empor, reden durfte er nicht, sie auch nicht. Dann und wann nickten sie einander zu; einmal fuhr sie ihm streichelnd über die braune Wange. Ein derbes, verständiges, gutes Gesicht hatte er!

Im Zimmer nebenan plauderten Vater und Sohn. „Das einzig Vernünftige, was Ihr thun konntet,“ lautete die Ansicht des letzteren, wogegen Busse mit der gehörigen Zurückhaltung meinte:

„Mag’s denn sein, ein Unglück ist’s nicht, aber es kann mich eine Masse Geld kosten. Die Landwirthschaft nährt heute wohl noch kleine Bauern; große Güter kaufen ist eine Luxussache für Leute wie Lieutenant von Zabern, und bei Pächtern kommt alles auf die Pachtsumme, auf das, was einer hineinzustecken hat, auf gute Jahre und auf den Mann selber an. Als alter Landmann überlegt sich das einer, ehe er seine Tochter in solche Verhältnisse bringt. – Aber wo bleibt nur die Billa? Jetzt wird mir das doch zu toll! Es ist ja wohl schon halb neun.“

Der Referendar hatte plötzlich ein unbehagliches Gefühl, als ob in betreff Billas etwas nicht richtig sei.

„Entschuldige mich, Vater, ich will doch mal in ihr Zimmer hinaufgehen. Ist denn heute etwas Besonderes mit ihr vorgefallen?“

„Wieso? – Du glaubst doch nicht – sie war heute früh höllisch aufgeregt und hat noch einmal einen letzten Sturm auf mein Vaterherz versucht, daß ich nahe dran war, mit unserem Geheimniß herauszurücken und auf die Ueberraschung zu verzichten. Aber unserer Mutter wegen wollt’ ich das doch nicht . . . “

Vater Busse blickte ziemlich betreten drein, Erich auch. Der Referendar verließ ohne ein Wort weiter das Zimmer und eilte treppauf. Dem ersten Blick verrieth nichts in Billas Stube auch nur die leiseste Andeutung, was geschehen war. Ruhig brannte die kleine weiße Porzellanlampe auf dem Tisch. Aber Erich ging näher – da sah er den geschlossenen Brief, und er bekam plötzlich Herzklopfen.

„An meine Eltern.“

„Allmächtiger Gott, das unselige Geschöpf – nur nicht das Schlimmste – nicht das Letzte!“

Er riß den Umschlag auf.

„Liebe Eltern! Vergebt mir, wenn ich thue, was mich mein Herz thun heißt. Ich bin auf der Reise, wenn Ihr diese Zeilen lest, und ich werde ohne Adolf nicht zurückkehren. Nie! Ich habe nur ein Ziel, welches ich jetzt verfolgen werde, nämlich die Seine zu werden. Ich bin so elend, daß ich es in diesem Zustande innerlich nicht länger aushalte. Nie habe ich stärker gefühlt als in diesen Tagen, wie ich für alle Freude abgestorben und krank bin. Vergebt: ich konnte das Weihnachtsfest, das Fest der Freude und der Liebe, nicht mit Euch feiern, es war mir unmöglich; ich kann nicht heucheln, nicht das Fest der Liebe entweihen – Liebe –? Ihr habt wohl kaum noch welche zu mir, sonst hättet Ihr nicht so rauh und hart meinen Jammer zurückgestoßen. Adolf wird für mich sorgen – bei ihm wohnt die Liebe, nach der mein ganzes Herz verlangt. Ich kann keinen andern Gedanken denken als – ihn! Sucht nicht nach mir – Ihr werdet mich nun ja doch wohl verstoßen. Wenn Ihr könnt, vergebt mir! Adolf wird beweisen, daß er imstande ist, mir eine Stellung in der Welt auch ohne Eure Hilfe zu schaffen; vielleicht nehmt Ihr dann wieder auf

Eure unglückliche Tochter
Billa.“

Ein Stein fiel dem Referendar vom Herzen. Und plötzlich schlug er ein helles und herzliches Lachen auf – er fiel in einen Stuhl und lachte weiter. „Dieses Teufelsmädchen, diese Billa . . . Ja, alle Wetter, aber was wird denn nun? Was werden die Alten unten sagen? Das dürfen sie auf keinen Fall erfahren!“

Er faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Tasche.

„Sicherlich ist sie mit der Bahn gefahren – mit meinem Zuge nicht, sonst hätte ich sie auf dem Bahnhof gesehen, also entgegengesetzt; das kann nur mit dem Sechsuhrzug geschehen sein. Und wer soll sie anders nach dem Bahnhof geschafft haben als der Pötter? Man muß bei ihm nachfragen, er wird ja mit der Sprache herausrücken – schwerlich hat sie ihn ins Geheimniß gezogen.“

Er nickte und ging lachenden Mundes zum Vater hinab ins Zimmer.

„Weißt Du, was ich glaube? Sie ist mir entgegen gefahren.“

„Na nu? Davon hätte sie doch wohl etwas gesagt!“

„Oho – nachdem sie sich mit Dir erzürnt hatte? Da kennst Du doch Billa! Gieb acht, ich habe recht, jedenfalls gehe ich mal jetzt zum alten Pötter, mit einem andern kann sie ja nicht gefahren sein – da werde ich hören, ob ich recht habe.“

„Aber, Junge –“

„Bitte, laß mich, Vater!“

[885]

„Allmächtiger Gott,“ rief Erich, „das unselige Geschöpf!“

Er ging auf den Flur, griff zu Ueberzieher und Pelzmütze, pfiff dem Hunde und stürmte in den Nebel hinaus. „Ist sie wirklich mit dem Zuge abgefahren, dann muß ich sehen, wie ich die Sache einfädele,“ murmelte er bei seinem eiligen Gang.

Während die Zurückbleibenden die Köpfe schüttelten, Vermuthungen tauschten und nebenher horchten, um das Klingeln des Schlittens zu hören, der Billa etwa zurückbrächte – man konnte einander ja in der That möglicherweise verfehlt haben – durchmaß der Referendar den Weg bis zu Pötters. Dort erhielt er von der Frau des alten Fuhrmanns alsbald erschöpfende Auskunft.

„Natürlich; mein Mann hat sie mit dem Schlitten nach der Bahn gefahren. Sie hat was von einer Ueberraschung gesagt, zu Hause sollte niemand was davon wissen.“

„Wann sind sie abgefahren?“

„Um vier; ich habe ihr noch den Schlitten voll Decken gepackt.“

„Ja, dann müßte doch das Fuhrwerk lange zurück sein!“

„Wohl, das ist mir auch sonderbar. Es wird ihnen doch nichts zugestoßen sein? Alt-Pötting wird jetzt manchmal recht schwach im Kopfe; er ist ja all stark in den Jahren!“

Dem Bruder wurde wieder schwül. Immerhin hatte die Sache auch ihre tröstliche Seite: nahe genug lag die Hoffnung, daß irgend ein Zufall die Hinfahrt unterbrochen habe.

„Könnte Alt-Pötting wohl falsch gefahren sein?“ fragte Erich, einem plötzlichen Einfall folgend, die Frau.

„Ja, das wäre möglich; einmal ist er schon gegen Abend gefahren, da ist der Schimmel auf den Weg nach Tempelwiese abgebogen, weil er den mehr gewohnt ist als die Chaussee. Vater fuhr dazumal einen Reisenden, und der hat ihm alle Donnerwetter auf den Kopf geflucht, weil er darum den Zug verpaßte.“

Erich schnippte in die Luft.

„Na, Mutting, dann muß ich der Sache mal nachgehen. Ihren Haken hat sie freilich auch noch. Halb fünf wären sie in Tempelwiese gewesen – um fünf wieder auf der Chaussee – möglicherweise hätten sie noch zum Zug zurechtkommen können, und jetzt, halb neun, müßte der Alte doch wieder hier sein! Kann er wohl die Absicht haben, die Nacht drüben zu bleiben?“

„Das würde er schwerlich thun, wenn ihm nicht was ganz Besonderes begegnet.“

„Gute Nacht einstweilen, Mutting; ich forsche jedenfalls nach, wo sie geblieben sind, und Ihr bekommt Nachricht.“

„Gute Nacht, junger Herr!“

Erich verließ das Häuschen und ging ein paar Straßen weiter. Da lag die Post, die Postmeistersleute waren jedenfalls um den Weihnachtsbaum versammelt. Der Referendar ließ den befreundeten Postmeister in die Wirthsstube bitten, die zur Post gehörte.

„Dewitz, wollen Sie uns einen großen Gefallen thun?“

„Immer zu!“

„Sie haben keinen Telegraphennachtdienst. Aber wollen Sie nicht trotzdem einmal nach der Bahnstation telegraphiren, ob dort heut abend der alte Pötter mit meiner Schwester zu Schlitten angekommen ist? Sie ist mir entgegengefahren, und kein Mensch weiß, was aus dem Fuhrwerk geworden ist.“

„Alle Hagel – ist nicht zurückgekommen? Natürlich telegraphire ich; das ist ja eine dumme Geschichte. Alt-Pötting und so’n Nebel, die passen schlecht zusammen. Warten Sie, ich will bloß meine Frau benachrichtigen.“

Der Postmeister telegraphirte. – „Werde nachfragen,“ telegraphirte man zurück. Und endlich wieder das Zeichen: „Hier weiß niemand etwas von dem Fuhrwerk.“

„Da haben wir den Salat und keine Fische!“ sagte der Postmeister. „Was nun?“

„Ich muß suchen. Ich muß zuerst in Tempelwiese nachfragen, ob der Gaul etwa dahin abgebogen ist.“

„Wollen Sie eins von meinen Pferden reiten, Erich?“

„Sehr freundlich, aber das könnte bei dem Nebel für mich und für das Pferd schlecht ablaufen. Wissen Sie was, Dewitz? Geben Sie mir Ihre Wasserstiefel und Ihre Flinte.“

* * *

Der Schlitten mit Alt-Pötting und Billa war eine Weile flott auf der Chaussee hingeflogen. Vorn baumelte eine Laterne – zu sehen war nichts als ein kleines Stück Weg, das heißt Schnee mit Wagen- und Schlittenspuren. Der Alte vorn sprach nichts, Billa sprach auch nichts. Eine Art Ermüdung war nach den Aufregungen des Tages über sie gekommen, nur einen drängenden Zug nach vorwärts – weiter – zum Ziele fühlte sie. In den vielen Decken war ihr warm, und sie schloß die Augen.

„Na, Fräulein, sind Sie denn nun auch warm?“ fragte plötzlich die schläfrige Stimme des Alten. Er hatte den Kopf zu ihr umgewandt und ließ das Pferd mit lockerem Zügel gehen.

„Ja, Pötting, ich sitze wie am Ofen.“

„Na, dann ist das ja gut. Meine Alte war sehr in Sorge, daß Sie sich verkühlen könnten. ‚Sie wird ja wohl nichts Recht’s mitnehmen,‘ sagte sie, ‚von wegen der Ueberraschung, und weil Du bei Schneiders halten sollst, da sollen sie so wohl zu Hause auch nichts davon wissen, und wo soll das Kind da die Decken bis zu Schneiders bringen.‘ – Jü, Schimmel – nee, was ist das für ein holpriger Weg! Da kann eins ja umschlagen mit dem Schlitten, man weiß nicht wie! Erst ging das doch so gut! Aber so ist das mit den Chausseen, da kratzen sie über den ganzen Sommer den Dreck auf die Seiten, und wenn das friert – hopp! na nehmen Sie ’s nicht übel, ich muß da ein bißchen aufpassen.“

Der Weg war jetzt in der That für eine Chaussee merkwürdig ausgefahren. Die Laterne schlenkerte vorn wie besessen,

„Pötter! Seid Ihr’s?“

[886] Alt-Pötting schüttelte mit dem Kopf und Billa war alle Augenblicke genöthigt, sich mit beiden Händen an die Schlittenwände zu klammern. Eine unbehagliche Besorgniß bemächtigte sich ihrer, wie das so schleuderte und auf und nieder ging, bald hier hoch, bald da hoch, rechts – links – hinten – vorn. Sie besaß sicherlich Muth; aber hier brachte jeder Augenblick Ueberraschungen und den Schein einer neuen Gefahr.

„Pötting, soll das wohl auch der richtige Weg sein?“

„Wo wird er nicht, Fräulein! Auf der offenbaren Chaussee kann doch kein Mensch fehlen, wenn er acht giebt, und ich hab’ ja all immer aufgepaßt. Hopp – das ist doch rein toll, da hätte der alte Schlitten doch um ein Haar umgeworfen.“

Sie hielt standhaft aus und versuchte, aus den am Wege stehenden Bäumen, gegen welche der Schlitten ein paarmal derb anschlug, auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Weges Schlüsse zu ziehen. Allein aus diesen schattenhaften Gebilden war in der dicken Nebelluft nichts Rechtes zu machen; es waren eben Bäume, deren gab es aber auch an Feldwegen.

„Nu kommt das ja besser,“ meinte jetzt der Alte vorn und zog den linken Zügel an. In der That war da eine Art glatterer Weg, den der Schimmel nach einem gemächlichen Peitschenhieb einschlug. „So, nu sind wir zurecht,“ versicherte Alt-Pötting treuherzig und befriedigt. „Sie können da ganz ruhig sein, Fräulein! Ich bin ja den Weg hundertmal gefahren, zu allen Tages- und Nachtzeiten und auch zu allen Jahreszeiten. Freilich, wenn ein Mensch nicht Bescheid weiß, dann soll er das bei dem alten ekligen Nebel wohl sein lassen!“

Hopp – da ging es wieder an wie vorher, nur noch viel ärger. Billa war bald außer Zweifel, daß der Schlitten auf Sturzacker fuhr. Der Schimmel stolperte einmal über das andere, fiel in die Kniee und raffte sich wieder auf … Billa stieß einen Ruf des Erschreckens nach dem andern aus; jetzt: „Ach Gott, ach Gott!“ – die eine Kufe war in einen überschneiten Graben hinabgerutscht, die eine Schlittenwand hob sich, und da lag die Bescherung!

„Brr – brrr!“ Der Alte rappelte sich auf und stieß ein paar kräftige Flüche aus; der Schimmel wollte weiter und ließ sich nur mit Mühe halten.

„Pötting, Pötting, was macht Ihr . . . !“ Billa hatte just keinen Schaden davongetragen, sie hatte sich bereits aus den Decken gewickelt, stand auf den Füßen und stäubte den Schnee ab. So dicht war dieser häßliche Nebel, daß sie kaum die verstreuten Gegenstände richtig zusammenfinden konnte.

„Je ja,“ nickte der Alte, „nun glaube ich das beinahe selber, daß das nicht stimmt. Da soll doch der Teufel dreinschlagen. Ich weiß nur gar nicht, wie wir von der Chaussee abgekommen sind!“

„Aber wo sind wir hier? Ich komme ja nicht zum Zug nach der Bahn!“ jammerte Billa verzweifelt.

„Na, so schlimm wird das wohl nicht werden,“ war die zuversichtliche Antwort. „Steigen Sie nur wieder ein, Fräulein, und machen Sie sich alles gut zurecht. Aus der Gegend da sind wir ja doch gekommen; und wenn wir nun wieder dahin zurückfahren, dann müssen wir all wieder auf die Chaussee kommen, und so weit ist das doch auch nicht ab.“

Ihr war das Weinen sehr nahe; nebenher war sie versucht, zu glauben, der Alte sei nicht ganz nüchtern.

„Nein, Fräulein, so was müssen Sie nicht glauben,“ versetzte der merklich gekränkte Alte auf eine dahinzielende Aeußerung. „Ich habe wohl heute nachmittag so ’nen lütten Schuß zu mir genommen, aber das vertrage ich, das thue ich immer, und zuviel trinke ich nie.“

Sie gab ihren Verdacht auf, setzte sich zurecht, und Alt-Pötting machte mit dem Schlitten kehrt und fuhr wieder zurück. Er ließ den Schimmel langsam gehen und achtete auf die Spur, die sich bei der Herfahrt gebildet hatte. Billa beruhigte sich. Nach einer Weile kam das Gesicht des Alten wieder herum:

„Das ist mir doch neulich so gegangen, daß ich nicht aufgepaßt habe und daß der Schimmel bis nach Tempelwiese abgedrusselt ist. Da wußte ich natürlich Bescheid! Freilich war das auch ’ne stockfinstre Nacht.“

„Paßt lieber auf, Pötting, daß wir nicht von der Spur abkommen!“

„He – Sackerlot, da müssen wir wieder umkehren, da sind wir richtig wieder abgekommen.“

Er wollte rasch umlenken, aber er hatte die Rechnung ohne den Schimmel gemacht. Dem kamen die Zügel unter den struppigen Schweif – und war es dies oder eine störrische Anwandlung: kurz, er trottete unverdrossen vorwärts, und je schärfer der Alte den Zügel anzog, je kräftiger er die Peitsche brauchte, desto mehr griff das Roß aus. So ging es eine ganze Weile weiter.

Billa fing an zu schluchzen: „Wir kommen nicht heraus aus diesem Nebel!“

Der Alte schien sich in die Lage gefunden zu haben. „Das brauchen Sie nicht zu glauben; ich lasse den Schimmel laufen und halte immer nach links, dann ist das ja nicht anders möglich, wir müssen auf den Weg kommen, den wir von der Chaussee abgefahren sind, das ist doch ganz klar.“

Er fuhr fort, den linken Zügel anzuziehen.

„Fräulein,“ rief er nach einiger Zeit lebhafter als sonst, „nun haben wir wieder Spur, nun hat’s keine Noth; das ist ’ne ganz frische Spur, das ist unsre. Nun fahre ich wieder gerade aus. Wir müssen gleich auf den Weg kommen.“

Aber sie kamen auf keinen Weg, obwohl Billa zuweilen halten ließ und sich überzeugte, daß sie wirklich die frische Spur vor sich hatten. Plötzlich zog sie die Uhr.

„Allmächtiger Gott, es ist gleich sechs Uhr! Meine ganze Fahrt ist umsonst!“

„Ja, ist das richtig? Dann ist das freilich schlimm. Das thut mir aufrichtig leid, Fräulein. Aber ich weiß nicht, das ist doch rein wie verhext. Das muß doch ein Weg hier sein; da sind ja doch mehr Spuren . . . “

„Haltet an, Pötting; wir wollen rufen, vielleicht hört uns jemand, der uns auf einen Weg bringt.“

„Ja, das wird wohl das Beste sein.“

Der Schlitten hielt; man horchte – nichts zu hören. Rings die Nebelnacht, nur das Lichtfleckchen, welches die Laterne gab, ließ etwas erkennen, nur wenige Schritte weit, dann erstickte der Schein in braunem Dunst. Das Pferd war ganz voll Reif und dampfte; Billa saß mit finsteren gerötheten Augen, steif und frostig zusammengezogen, ihre Pelzsachen waren bereift. Alt-Pötting schloß die Fausthandschuhe vor dem Munde zusammen und grunzte hindurch, so laut er konnte: „Heda!“

„Hilfe!“ rief Billa.

Kein Laut!

„Das Beste ist schon, wir fahren die Spur weiter,“ meinte Pötter. „Einmal müssen wir ja doch auf richtigen Weg kommen. Es giebt doch soviel Wege in der Gegend.“

Und der Schimmel zog wieder an.

Billa fror und weinte vor sich hin. Eine grauenhafte Angst überfiel sie. War das eine Strafe des Himmels für ihre Flucht? O Gott, welch eine Weihnacht – die Leute standen in warmen Stuben um Christbäume und Geschenke, und sie – und sie . . .

Sie sah nach der Uhr, wieder, immer aufs neue. Eine Viertelstunde nach der anderen rückte vor, es wurde sieben, es wurde acht, es wurde halb neun. Sie war so erstarrt, daß sie die Uhr kaum mehr zu handhaben vermochte. Alt-Pötting fuhr mechanisch weiter, dann und wann Unverständliches brummend. Keines von beiden sprach ein Wort. Was auch? und mit diesen steifen Lippen . . .

Da – ein Schuß – ein Ruf, o Gott, ein menschliches Wesen! Ein ferner, dumpfer Ruf, kaum durch die greifbar dicke Atmosphäre dringend. Dann wieder ein Schuß – Hundegebell und danach – ein ganz eigenartiger Pfiff.

„Erich!“ schrie das arme Geschöpf auf, schrill und durchdringend. Sie hörte das nachfolgende Hundegebell nicht mehr; sie hatte den Erkennungspfiff aus den Kinderjahren vernommen, und nun hatte sie nicht mehr nöthig, sich aufrecht zu erhalten. Ihr Kopf sank zur Seite und in tiefer Ohnmacht lehnte sie gegen das Korbgeflecht der Schlittenwand.

* * *

„Pötter! Seid Ihr’s?“ ertönte es aus dem Nebel und ein Lichtschein wurde sichtbar.

„Wohl!“

„Mit meiner Schwester?“

„Wohl, junger Herr! Der Teufel hat uns hier auf dem alten Felde ’rumgeritten. Guten Abend auch!“

„Na, Billa, Du darfst auch von Glück sagen!“

Aber Billa antwortete nicht.

[887] „Herrgott,“ sagte Erich tödlich erschrocken, „das Mädchen liegt ja wie todt da! Sie wird doch nicht . . . “ „Erfroren sein,“ schwebte ihm auf der Zunge.

„Das ist wohl von der Angst gekommen. Es war auch zu arg, daß wir uns da gar nicht und gar nicht ’rausfinden konnten! Sie hat doch eben noch Ihren Namen gerufen!“

Erich nahm hastig Schnee vom Boden und rieb die Schwester – endlich! Gott sei Dank! schlug sie die Augen auf, hing sich um seinen Hals und schluchzte zum Erbarmen.

„Du armes Ding, Du armes Ding!“ sagte er und hielt das dick vermummte Geschöpfchen in den Armen. „Du mußt ja rein erfroren sein, Dein Gesicht ist wie ein Eisklumpen. – Nun bloß keine langen Umstände machen, Pötter! Vorwärts nach Hause, an den Ofen . . . “

„Niemals, Erich –“ im Umsehen war sie zu ihrer ganzen leidenschaftlichen Gluth erwacht. „Ich kann nicht wieder zurück zu den Eltern! Du weißt nicht – bringe mich irgendwohin, Erich, wenn Du einen Funken Liebe zu mir hast, irgendwohin, wo sie von meiner Anwesenheit nichts erfahren. Da will ich Dir beichten – –“

„Ruhig, ruhig, Du Hitzkopf, ich weiß alles.“

„Nun, dann begreifst Du – der Brief . . . “

„Daß Du’s nur weißt: kein Mensch hat ihn gesehen als ich, und hier ist er. Riz – raz – nein, den hebe auf und zeige . . . Na, es ist doch besser so!“ Er zerriß den Brief in winzige Fetzen und warf diese weit umher. – Er war richtig im Begriff gewesen, aus der Schule zu schwatzen!

„Mein Gott – wirklich – Erich . . . “

„Ja ja, auf mein Wort. Ich habe das Schriftstück oben gefunden, habe indeß vorgezogen – bedanke Dich bei mir! – es nicht an seine Adresse zu befördern, vielmehr allen einzureden, Du wärest in Deiner bekannten Manier, ohne jemand etwas zu sagen, nach der Bahn gefahren, um mich abzuholen – von der alten Pötter erfuhr ich, daß der Schlitten noch nicht zurück wäre; von Dewitz, der rasch telegraphiren mußte, daß Ihr nicht an die Bahn gelangt; den Rest konnte ich mir an den Fingern abklavieren. Das sage ich Dir, an mir ist ein Polizeidirektor verloren gegangen, die Nase habe ich dazu. Also wir bleiben dabei: Du hast mich holen wollen; und im übrigen wirst Du als gerettetes Familienglied zu Hause mit Pauken und Trompeten empfangen werden. Nun aber los!“

Da stand Billa, weit vorgeneigt, mit starren Augen.

Er schob Billa sanft in den Schlitten zurück, nahm die mitgebrachte Laterne aus dem Schnee auf, um sie aushilfsweise neben der Schlittenlaterne weiter zu benutzen, gab Pötter das Gewehr vor und setzte sich neben der Schwester zurecht.

Alt-Pötting kutschirte und blieb wohlweislich stumm. Um ein Haar wäre er auf der Chaussee wieder in der verkehrten Richtung weiter gefahren, wenn nicht der Instinkt des Schimmels die Entscheidung übernommen und diesmal die Ehre seines Herrn gerettet hätte. Erich war voll Uebermuth und litt keinen Augenblick, daß Billa zum Gefühl ihrer fragwürdigen Lage kam.

Der Schlitten klingelte, und der Hund tauchte wie ein Gespenst im Nebel auf und verschwand wieder . . .

* * *

„Pötter, halten Sie hier! Du bleibst noch ein paar Augenblicke sitzen, Billa! Ich gehe voraus.“

Erich hob die schwer bestiefelten Beine hinaus, ließ sich das Gewehr reichen und schritt bis an die Gitterthür des elterlichen Grundstücks . . . klapp! schlug sie zu. Und nun klingelte er – und verschwand in der Hausthür.

Billa stieß einen herzbrechenden Seufzer aus.

Aber nun öffnete sich die Thür wieder. „Immer ’ran, Pötter!“ rief Vater Busse. Da kamen sie zu dreien ihr entgegen. „Siehst Du, das hast Du ’mal von Deinem Eigensinn, Lütting. Das geht Kindern so. Mutter, nimm sie nur rasch an den Ofen, daß das Kind aufthaut; wir werden dann ja wohl endlich zum Bescheren kommen. Und Ihr fahrt nach Hause, alter Krümper; ich schicke Euch eine Flasche Rum zum Grog nach, daß Ihr wieder zu Schick kommt. Eure Frau wird sich schön um Euch sorgen!“

„Ich weiß nicht, Herr Busse, das ist mir doch auf alle Fälle ein Räthsel . . . “

„Das wollen wir morgen mal zu lösen versuchen, das giebt ein Feiertagsvergnügen; nun fahrt nur zu! Guten Abend auch!“

„Und ein vergnügtes Fest, Herr Busse! Jü!“

Der Hund kam mit in das Haus und schob sich unverzüglich hinter den Ofen, und am Ofen stand das arme Geschöpf, die Billa, ausgeschält, frostschauernd, bleich und stumm, mit großen Augen, dem Weinen nähe, während ihr die sorgliche Mutter heißen Thee einfüllte.

Ihre Flucht vergebens! Sie eine Gefangene der Weihnachtslust, sie mit dem jammernden Herzen! Und die Mutterliebe schlug so warme Wellen um sie, und der Vater lachte [888] sie so natürlich glücklich an, und der Erich machte schlechte Witze . . .

„Na nu, Kinder, was wollen wir jetzt zuerst: essen oder bescheren?“

„Bescheren,“ sagte Erich. „Wenn ich mal anfange zu essen, dann wird das etwas lange.“

„Hast Du auch alles fertig, Mutter?“

„Alles.“

„Na, dann auf mit den Thüren! Hol’ Du Dir Dein Theil zuerst, Billa!“

Und Erich schob sie vor sich her in den Saal.

Da stand Billa – weit vorgeneigt, mit starren Augen . . . ein Schrei, wie einer auf dem Schafott ihn ausstößt, dem „Gnade!“ zugerufen wird – und wie ein Gedanke flog sie auf den bekränzten Korbstuhl unter dem Weihnachtsbaum zu: „Adolf, mein Adolf!“ und da lag sie auf den Knieen, schluchzend, küssend –

Und Vater Busse im Hintergrunde schlang den einen Arm um seine Frau und fuhr sich mit der andern Hand über die Augen und sagte:

„Es war doch recht so, Mutter; so ist das doch eine schöne Sache! Und das Mädel ist ja rein toll auf ihn!“

* * *

Von jenem Briefe erfahren die Eltern nie etwas. Eine rechtschaffene Frau soll vor ihrem Manne keine Geheimnisse haben, aber . . . selbst Herr Adolf Landow bekam erst nach Jahren davon zu wissen . . .

Und daß der junge Haushalt ihm zuviel koste, den er ein Jahr später begründen half, hat Herr Busse gegen niemand behauptet . . .

* * *

Weshalb Alt-Pötting trotz seines Spurfahrens auf keinen Weg kam? Am Weihnachtstage war der Nebel weg und die Männer untersuchten die Sache; der Gute war einfach immer auf seiner eigenen Spur im Kreise herumgefahren!