Tragödien und Komödien des Aberglaubens/Der Tschört

Textdaten
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Autor: Olga Wohlbrück
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Titel: Der „Tschört“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 538–540
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Serie: Tragödien und Komödien des Aberglaubens
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Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der „Tschört“.
Nach einer wahren Begebenheit erzählt von Olga Wohlbrück.


Fern im Osten, an der Grenze von Galizien, liegt ein kleiner Ort mit Namen Pugowka, auf deutsch „Knopf“. Er hebt sich auch mit seinen niederen Lehmhütten nicht anders als ein Knopf von der endlosen Ebene ab, die sich zu beiden Seiten des Dörfchens ausbreitet. Der Wald liegt weit ab . . . dort, wo Himmel und Erde in eine Linie zusammenfließen, nächst dem Fluß, der gleich einem silbernen Bande die Wiesen und Felder einsäumt.

Allein gingen die Kinder nicht gerne ins Gehölz, denn sie fürchteten die Waldgeister, nur wenn die Väter Bäume fällten, schlenderten sie mit und sammelten Reisig und Pilze.

Die Männer fällten die großen Baumstämme, banden sie zusammen zu Flößen und fuhren bis zum nächsten Städtchen zu dem großen Unternehmer, dem der ganze Wald von Pugowka gehörte. Der Unternehmer war ein stolzer, vornehmer Herr. Die Bauern meinten, er sei ein Deutscher, und wenn sie seine hohe Gestalt an der kleinen, roh gesägten Landungsbrücke erblickten, dann nahmen sie schon von weitem die Mützen ab, und die Kinder, die mit auf dem Floß waren, bekreuzten sich vor lauter Respekt.

Kaum hundert Schritte vom Landungsplatz lag die Fabrik, wo die Holzstämme zersägt wurden. Aus den im Sommer geöffneten Fenstern drang ein höllenmäßiger Lärm. Die Bauern wagten sich niemals in die Nähe. Der Unternehmer forderte einmal den Aeltesten auf, die Fabrik zu besichtigen, aber der bekreuzte sich und wehrte ab. „Was soll ich, Herr, in dem Teufelsraum! Im Handumdrehen hat einen der ‚Tschört‘ (der Teufel) beim Genick!“

Die Kinder waren beherzter, sie liefen, während den Vätern der Lohn ausgezahlt wurde und der Unternehmer den Schnaps kredenzte, näher zur Fabrik heran, drangen in den Hof und vergruben sich lachend in den großen Haufen von Sägespänen und Sägestaub wie Spatzen im Sand, blickten neugierig zu dem hübschen Wohnhause des Unternehmers empor und lugten durch den lose gezimmerten Zaun in den wohlgepflegten Garten. Einmal gewahrten sie dort eine feine Dame und ein kleines weißgekleidetes Mädchen mit blonden Locken, das ein ganz winziges blondes Kindchen auf dem Arm trug. Und sie stießen sich gegenseitig an und kicherten: „Daß es so kleine Kinder giebt!“

„Ich habe erst gestern einen kleinen Brnder bekommen,“ sagte die sechsjährige Njutka zu einem Kameraden, „aber der ist doch viel größer. Und dann schreit er auch.“

Njutka verband nun mit der Vorstellung von der Stadt die Begriffe, daß die Maschinen wie lebende Menschen seien, die kleinen, ganz kleinen Kinder aber – wie Tote. Sie erzählte das zu Hause ihrer Mutter, die die Hände über dem Kopf zusammenschlug und meinte: „Du gehst mir nicht mehr in die Stadt, Njutka, dort wirst Du noch vom Bösen verführt.“

Aber Njutka bat und bettelte so lange, daß sie das nächste Mal doch wieder den Vater begleiten durfte. Sie nahm sich vor, diesmal von all ihren Entdeckungen zu schweigen. Heimlich stahl sie sich von ihren Kameraden fort und eilte geradeswegs auf den Zaun zu. Sie legte das Auge an ein großes rundes Loch und spähte hindurch. Richtig, da ging es wieder, das kleine Fräulein, und hielt auch diesmal ein Kind auf dem Arm. Nein ... das war kein Kind . . . das war ja der leibhaftige Teufel, mit braunem Gesicht, schwarzem Kraushaar, blutroten Lippen und einem roten Sammetkittel. Aber der Teufel rührte sich nicht, das kleine Fräulein nahm ihn auf den rechten Arm, dann auf den linken – er ließ sich alles gefallen. Dann beugte sie sich zu ihm nieder, sprach leise mit ihm und gab ihm einen Klaps. Nach einer Weile streichelte sie ihn, drückte ihn in ihren Armen und küßte ihn auf die halbgeöffneten blutroten Lippen.

Njutka hatte furchtbares Herzklopfen; aber die Neugierde besiegte die Angst. Sie steckte einen Finger durch das Loch, klopfte mit der Faust der anderen Hand auf den Zaun und rief: „Du, Fräulein, Du . . .“

Die Kleine hob den blonden Kopf. „Wer ruft mich?“

„Ich.“

„Wer bist Du?“

„Ich heiße Njutka und habe mit Väterchen Holz aus Pugowka gebracht. Siehst Du meinen Finger?“

„Jawohl. Nun klettere doch über den Zaun!“

„Ich kann nicht, ich bin zu klein.“

„Na, warte, dann will ich Dir das Pförtchen aufschließen.“

„Wird mir Dein Tschörtik (Teufelchen) aber auch nichts thun?“

„Welchen ‚Tschörtik‘ meinst Du?“

„Den Du auf dem Arm trägst.“

„Du bist dumm, das ist ja meine Puppe.“

„Was ist das, eine Puppe?“

„Na, komm her und sieh Dir’s an!“

Einen Augenblick später knarrte das Pförtchen in den Angeln, und das kleine Fräulein, des Unternehmers einziges Töchterchen, Lisa, trat heraus. Sie blickte das Bauernmädchen nach Art verwöhnter Kinder sehr ungeniert an, dann sagte sie: „Du bist sehr schmutzig, Njutka.“

Njutka lachte, denn sie empfand diese Worte nicht als Vorwurf. Der Schmutz war für sie etwas ganz Natürliches. Sie [539] blickte nur mit gespannter Aufmerksamkeit auf die schwarze Negerpuppe.

„Das ist doch ein Tschörtik,“ sagte sie nach einer Weile bestimmt. Lisa zuckte die Achseln.

„Es giebt gar keinen Teufel. Diese Puppe hat mir meine Tante aus Paris geschickt.“

„Was ist denn Paris?“ fragte Njutka.

„Eine große Stadt, in der es die schönsten Puppen und Kleider giebt. Aus Paris kommen auch die Gouvernanten. Siehst Du, dort geht meine Gouvernante, mit der muß ich immer französisch sprechen. Paß auf, meine Puppe spricht auch französisch!“ Und plötzlich sagte der kleine Neger ganz deutlich „Papa . . . Maman . . .“

Njutka war ganz blaß geworden und zitterte heftig.

„Willst Du ihn in die Hand nehmen?“ fragte Lisa.

Njutka schüttelte den Kopf und rannte spornstreichs davon. Sie hörte noch, wie das kleine Fräulein laut und spöttisch auflachte.

Den Heimweg traten die Floßführer zu Fuß an, es war nur ein zweistündiger Weg; Rjutka war sonst immer sehr ausdauernd im Gehen, heute schleppte sie sich kaum vorwärts. Daheim wurde sie von der Mutter, einer braven gutmütigen Frau, gefragt, ob sie krank sei.

„Nein.“

„Willst Du essen, mein Täubchen?“

„Nein.“

„Willa Du Thee trinken, mein Seelchen?“

„Nein“

„Was willst Du denn haben?“

„Eine Puppe, Mütterchen!“

Die Mutter lachte leise auf und streichelte dem Kinde die Wange.

„Warum sagtest Du das nicht gleich, Dummchen?“

„Also giebt es Puppen?“ fragte Njutka, und ihre Augen glänzten freudig.

„Freilich, freilich . . . hab’ selbst mit Puppen gespielt. Warte, mein Goldkind, gleich sollst Du eine haben!“

Die Frau kramte in einer Truhe, nahm ein paar bunte verwaschene Fetzen heraus, und eine halbe Stunde später gab sie ihrem Töchterchen die aus Flicken genähte Puppe, auf deren weißem Leinwandgesicht mit schwarzer Kohle die Augen, der Mund und die Nase aufgezeichnet waren.

„Das ist keine Puppe,“ sagte Njutka traurig.

„Wieso keine Puppe?“ fragte die Mutter verblüfft.

„Nein ... ich will eine Puppe, die französisch spricht.“

„Die spricht? Ach Du lieber Gott, verzeih’ mir armer Sünderin . . . wer hat mein Kind behext? Eine Puppe, die spricht, die giebt’s ja nicht! Der Tschört hat Dich genarrt. Ach Du himmlischer Vater, verzeih’ ihr die Sünde!“

Und die gute Frau schlug große Kreuze vor dem im Winkel angebrachten Heiligenbild. Dann wendete sie sich streng an die Kleine.

„Daß Du mir im Dorf keinen solchen Unsinn redest und mich in Schande bringst! Eine Puppe, die spricht ... ach Du lieber Himmel!“

Njutka schlich sich trübselig aus der Stube und weinte. Also war es doch ein Tschörtik gewesen!

Als sie das nächste Mal am Gartenzaun stand und das kleine Fräulein rief, machte ihr Lisa sofort das Pförtchen auf.

„Mütterchen sagt auch, es gebe keine sprechenden Puppen. Also ist es doch ein Tschörtik,“ versicherte Njutka ihre junge Gönnerin.

„Meinetwegen – wenn sich’s nur gut mit ihm spielen läßt!“ sagte Lisa lachend.

„Beißt er nicht?“ fragte Njutka, mißtrauisch die Negerpuppe betrachtend, die Lisa ihr entgegenhielt.

„Nein!“

Zaghaft ergriff Njutka die Puppe bei dem feuerroten Sammetkittel.

„Laß Deinen Tschörtik nicht fallen,“ rief Lisa, „der kostet viel Geld!“

Sie nannte ihre Negerpuppe nun selbst Tschörtik, und es machte ihr Spaß, die Angst und Verwunderung des Bauernkindes zu sehen. Dann ließ sie die Puppe wieder „Papa“ und „Maman“ rufen und sagte, das bedeute „Väterchen“ und „Mütterchen“.

„Fürchtest Du Dich noch?“ fragte sie. Njutka schüttelte den Kopf.

„Nun siehst Du, Du kannst immer mit dem Tschörtik spielen, wenn Du mit Deinem Vater herkommst.“

Wochen vergingen. Njutka lief, so oft sie konnte, den zwei Stunden langen Weg, um nur einige Minuten mit der Negerpuppe spielen zu können. Im Hause wurde sie nicht vermißt, denn die Kinder tummelten sich ja meist im Freien umher und suchten das Haus nur auf, wenn sie Hunger hatten und die braune Buchweizengrütze aus dem Backofen herausholten. Wenn es regnete, war Njutka untröstlich, denn die Mutter ließ sie dann nicht auf die Straße, sie mußte den kleinen Bruder warten und am Strick ziehen, der die Wiege in Bewegung setzte. Einmal hielt sie es aber nicht mehr aus in der dumpfen Hütte, sie sprang zum niederen Fenster hinaus und lief barfuß, wie sie war, die holperige Landstraße hinab zum Städtchen. Der Regen goß in Strömen, Njutka ward bis auf die Haut durchnäßt, aber sie achtete dessen nicht. Sie kam bis zu dem Gartenzaun und spähte durch das Loch. Der Garten war natürlich wie ausgestorben – kein kleines Fräulein, kein Tschörtik. Bitterlich weinend lief Njutka den Weg zurück. Zu Hause versetzte ihr die Mutter ein paar Ohrfeigen dafür, daß sie weggelaufen, und der Vater drohte mit Schlägen. Njutka kroch auf die Ofenbank, hungrig und müde, und versuchte zu schlafen, aber der Kopf glühte ihr und sie sah so absonderliche Dinge vor sich, daß sie nicht wußte, ob sie schlief oder wachte. Dann fing sie an, laut zu rufen. Die Mutter horchte auf und sagte zu ihrem Mann: „Sie hat das Fieber!“

Plötzlich bekreuzte sie sich, denn die Kleine rief deutlich „Tschörtik! Tschörtik! Ich will den Tschörtik haben!“

„Himmlischer Vater, sei uns gnädig, der Böse spricht aus ihr,“ rief die Mutter. Eine Nachbarin, die eben kam, um ein Viertelstündchen zu verplaudern, wurde schleunigst hinauskomplimentiert. Njutka rief immer wieder. „Gebt mir den Tschörtik!“

Der Vater verließ zornig die Hütte. Die Mutter aber faßte sich ein Herz und näherte sich dem phantasierenden Kinde. „Was willst Du, mein Seelchen?“

„Den Tschörtik, Mütterchen.“

„Fürchte Gott, mein Täübchen, rufe den Tschört nicht! Wenn er kommt, nimmt er Dich weg und trägt Dich in die Hölle.“

„Nein, Mütterchen, geh’ nur zu dem Fräulein, die hat den Tschörtik, sie wird ihn mir schon geben. Geh’ hin, Mütterchen, geh’!“

„Zu welchem Fräulein, Kindchen?“

„Zum Fräulein des Unternehmers, da, wo der große Garten ist. Ach Mütterchen, geh’ nur, bring’ mir den Tschörtik!“

Njutka fing an zu weinen, dann sprach sie wirres, unzusammenhängendes Zeug, daß der Mutter ganz bange wurde. Die Frau fiel auf die Knie nieder und betete, Gott möge ihr Kind gesund machen. Njutka aber schrie immer wieder dazwischen: „Den Tschörtik . . . den Tschörtik!“

Endlich konnte es die gequälte Mutter nicht länger mehr anhören.

„Ich geh’ schon, mein Täubchen, hab’ Geduld, ich gehe gleich. Ich hol’ ihn Dir, den Verfluchten! ... Wenn das Fräulein nur nicht beleidigt ist! Wie soll nur der Böse zum Fräulein gekommen sein? Gott verzeih’ mir armer Sünderin!“

Sie hüllte sich in ein Tuch und ging trotz der vorgerückten Stunde ins Städtchen zum Unternehmer. Dort ließ sie sich beim Fräulein melden. Man fragte nach ihrem Begehr.

„Die Njutka ist mein Kind,“ sagte sie, „sie hat mich hergeschickt, das Fräulein um den Satan zu bitten.“

„Satan“ erschien ihr höflicher als „Tschörtik“.

Der Diener sah die Frau mißtrauisch an. „Bist wohl verrückt oder betrunken?“ fragte er.

Die Frau wiederholte ihre Bitte noch eindringlicher als das erste Mal. Sie sah so anständig aus. Der Diener ging zu den Herrschaften und meldete mit unterdrücktem Lachen, eine Frau sei draußen, die bitte um den Satan vom gnädigen Fräulein. Lisa lachte und hüpfte wie toll im Zimmer umher.

„Ach, den Tschörtik meint sie wohl, den Tschörtik!“ Und sie lief hinaus und brachte der Frau die Negerpuppe. „Da nimm . . . Njutka darf ihn behalten, er ist so wie so alt!“

Die Frau versteckte die Hände unter der Schürze.

„Verzeih’, Fräulein, aber mit bloßen Händen rühre ich ihn nicht an!“

„Na warte, ich will ihn Dir in Papier wickeln.“

Behutsam nahm die Frau das Paket und verbarg es unter ihrem Tuch. Dann bekreuzte sie sich und eilte von dannen. [540] Unheimlich lang dünkte ihr heute der Weg mit dem Tschörtik unter dem Arm. Hatte er doch ihre Njutka behext, wie würde es nun ihr selbst gehen! Und wenn die Nachbarn erfuhren, daß sie den Teufel in ihrer Hütte habe, welcher Christenmensch würde dann noch mit ihr verkehren? Aengstlich preßte sie das Paket an sich. Plötzlich hörte sie einen langgedehnten, eigentümlich quietschenden Ton. Vor Entsetzen gelähmt, blieb sie stehen und drückte die Arme aneinander ... da, wieder derselbe Ton unter ihrem Arm heraus. Die Frau schrie auf und ließ die Last fallen.

„Himmlischer Vater, beschütze mich!“ murmelte sie und starrte auf das weiße Paket.

Sie war kaum noch zehn Minuten vom Dorf entfernt, aber sie traute sich nicht mehr, den Tschörtik anzufassen, jetzt, nachdem der böse Geist aus ihm gesprochen. Er war freilich sehr klein, der Teufel, wie, wenn sie ihn mit dem Fuß tot trat? Sie drückte mit ihrem hohen Männerstiefel vorsichtig auf die Negerpuppe . . . wieder ein langer klagender Ton! Das war zuviel! Die Frau schlug ihren Rock über den Kopf und lief spornstreichs nach Hause.

Njutka lag noch auf der Ofenbank, mit fiebergeröteten Wangen und glänzenden Augen. Neben ihr stand ein altes Weib und schüttelte den Kopf.

„Deine Tochter, Anisja, ist vom Bösen besessen,“ sagte sie zur eintretenden Mutter.

Anisja brach in Schluchzen aus und warf sich auf die Fensterbank.

„Verzweifle nicht, Anisjuschka, ich habe schon Gebete gesprochen, vielleicht hilft der Herr.“

„War mein Mann da?“

„Jawohl – aber er schämte sich so, und da ist er wieder weggegangen.“

„Die Schande, die Schande!“ stöhnte Anisja.

Njutka hörte jetzt die Stimme der Mutter, richtete sich auf und rief:

„Mütterchen, den Tschörtik – gieb mir den Tschörtik!“

„Daß ihn die Erde verschlinge! Ich hab’ ihn nicht!“

Njutka warf sich unruhig hin und her und verlangte zu trinken. Aber die Alte und Anisja waren so sehr in ihre Gebete vertieft, daß sie den Wunsch des Kindes überhörten. Gegen Abend füllte sich die Hütte mit Nachbarn. Alle hatten schon gehört, daß Njutka vom Teufel besessen sei. Scheu drückten sie sich an die Wand und blickten auf das fiebernde Kind, das sich seine Krankheit doch durch nichts anderes als durch das hastige Laufen im regnerischen kalten Wetter zugezogen hatte. Ratschläge wurden laut. Die einen meinten, man solle einen Eimer mit kaltem Wasser über das Kind gießen, um den Deufel auszutreiben, die anderen wieder verlangten, man solle den Ofen recht einheizen und das Kind dem Feuer so nahe als möglich bringen, damit der Teufel ersticke. Ein Glück, daß die Mutter all diese Ratschläge von sich wies und nur zum Gebet ihre Zuflucht nahm.

Daß sie selbst den Versnch gemacht hatte, den Tschörtik ihrer Tochter zu bringen, verschwieg sie wohlweislich, um nicht in Verruf zu kommen.

Allmählich entfernten sich die Dorfbewohner kopfschüttelnd aus der Hütte. Nur die Alte blieb da, um die bösen Geister weiter zu beschwören. Gegen Morgen kam auch der Bauer in angetrunkenem Zustande nach Hause. Er machte schlechte Witze über den Teufel, schrie laut, er wolle es schon mit ihm aufnehmen, und legte sich endlich auf den Ofen, um sofort in lautes Schnarchen zu verfallen.

Draußen hörten Regen und Sturm nicht auf. Anisja betete, bis ihr die Augen zufielen. Die Alte war längst eingenickt, und nur Njutka unterbrach die eintönige Stille mit klagenden Rufen: „Ich will den Tschörtik ... gieb mir den Tschörtik!“

Um die Mittagszeit des andern Tages klärte sich der Himmel auf. Die Kinder tummelten sich draußen vor dem Dorfe und sprangen lustig über die großen Wasserlachen. Da entdeckten sie plötzlich ein aufgeweichtes Paket, aus dessen zerschlissenem Papier hie und da etwas Schwarzes hervorlugte. Sie rissen das Papier herunter und erblickten die Negerpuppe.

Was war das für ein Ding? Es hatte Gliedmaßen wie sie selbst, war aber leblos und schrecklich schwarz. Die Beherzten tippten es an. die Aengstlichen verschränkten die Arme auf dem Rücken und blinzelten nur neugierig über die Köpfe der anderen hinab auf den seltsamen Fund.

„Ich nehme mir diesen Tschörtik,“ sagte endlich der Mutigste und Größte, bemächtigte sich mit dem Rechte des Stärkeren der Puppe und trug sie nach Hause. Als er in die elterliche Hütte trat, sah er Anisja neben seiner Mutter stehen und sich mit der Schürze die Thränen aus den Augen wischen.

„Seht, was ich gefunden habe!“ rief er triumphierend und hob die Negerpuppe in die Höhe.

Anisja stieß einen durchdringenden Schrei aus. „Das ist ja der Tschört, der leibhaftige Satan . . . wirf ihn fort, den Verfluchten . . . rühr’ ihn nicht an!“

Die beiden Frauen waren ganz blaß geworden. „Wirf ihn fort!“ kreischte nun auch die Mutter.

Und eh’ sich der Knabe dessen versah, hatte die Mutter die Negerpuppe ergriffen und in weitem Bogen aus dem Fenster geworfen. Auf der Straße sammelten sich die Kinder an. Anisja lief zu ihnen hinaus.

„Nicht anrühren! Das ist der Böse, er hat mir mein Kind verhext, meine Njutka!“

Aus den Hütten kamen allmählich alle Frauen herbei, um sich den Tschört anzusehen.

„Die Fratze, die er hat!“ sagten die einen.

„Warum er so klein ist?“ fragten die anderen.

„Damit er überall eindringen kann,“ erklärte Anisja. „Er sieht aus wie eine Puppe und täuscht die Menschen, aber das ist alles Trug und List, um uns zu verderben.“

„Was machen wir aber mit ihm, wir können ihn nicht hier lassen, mitten im Dorf – weiß Gott, was uns dann noch alles passiert.“

Männer traten nun auch herzu, und bald war das ganze Dorf versammelt. Der Bauernälteste betrachtete die Puppe lange Zeit, dann sagte er laut:

„Hier hat der Tschört keinen Platz, er verunreinigt die Straße. Und es ist meine Pflicht, auf die Sauberkeit der Straße zu achten. Als Aeltester kann ich auch nicht zugeben, daß Ihr den Tschört in Eurer Behausung habt. Ich schlage vor, wir vergraben ihn.“

Aber die Männer schüttelten die Köpfe.

„Dann gedeiht uns keine Saat. Der Boden, auf dem unser Korn wächst, den unser Vieh betritt, ist geheiligt!“

„Steinigen!“0 „Verbrennen!“ hieß es nun in wirrem Durcheinander. Der Aelteste aber hob beschwichtigend die Arme.

„Was geschieht denn mit dem Körper, was mit der Asche? Nein, so rasch können wir uns nicht entscheiden. Noch heute berufe ich Versammlung ein. Ihr müßt zur Beratung kommen, auf daß wir keinen übereilten Entschluß fassen. Zwei Männer bleiben hier und bewachen den Satan, daß er nicht Unheil stiftet in der Nacht. Ihr Weiber aber betet, daß er sich nicht in Eure Seelen schleicht, wie er sich in die Hände unserer Kinder geschlichen.“

„Sollen wir nicht den Batjuschka aus der Stadt herbitten, daß er ein Gebet spricht?“ fragte eine Frau.

Der Aelteste zuckte die Achseln. „Wenn wir den Popen extra bitten, dann kostet’s uns Geld, kommt er aber zum Kornsegen, dann kann er die Stelle hier gleich mitbespritzen. Das stellt sich billiger. Fürchtet Euch nicht! Ich bin Euer Aeltester, ich werde für Euch sorgen.“

In den meisten Hütten brannte die ganze Nacht über Licht, denn der Tschört war im Dorf! Die Frauen beteten, die Männer saßen beim Branntwein in der Hütte des Aeltesten und berieten, was sie mit dem Dschört thun sollten. Die Sitzung war sehr erregt. Erst beim Morgengrauen trennten sie sich. Anisjas Gatte trat laut polternd in die Hütte; seine Frau kam ihm entgegen und sagte. „Njutka ist fast ganz gesund, sie hat schon Grütze gegessen und Apfelwein getrunken.“

Der Bauer reckte sich in die Höhe.

„Das mußte auch so sein, denn ich habe vorgeschlagen, was mit dem Tschört geschehen soll, und mein Vorschlag ist angenommen worden. Wir binden ihm einen schweren Stein um den Hals, fahren mit einem Boot bis in die Mitte des Flusses und versenken ihn da, wo es am tiefsten ist.“

Anisja faltete die Hände und blickte ihren Mann bewundernd an.

„Den Gedanken hat Dir Gott eingegeben, mit eigenem Verstand kann man so ’was Kluges gar nicht erdenken!“ sagte sie, indem sie tief und erleichtert aufatmete und sich andächtig bekreuzte.

Am andern Morgen banden graubärtige Männer einer Pariser Negerpuppe einen Strick um den Hals und versenkten sie in die dunklen Fluten des Flusses. Die übrigen Dorfbewohner standen am Ufer und dankten Gott, daß er sie vom „Tschört“ befreit hatte.

Also geschehen zu Pugowka am 24. Juni 1893.