Textdaten
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Autor: Rud. Kleinpaul
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Titel: Tragödien und Komödien des Aberglaubens. II.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 168, 170–171
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[168]
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
II.

Der „Dreizehnte“ bei Tisch! Das ist wohl das verbreitetste Beispiel einer ganzen Gruppe von Wahngebilden des Aberglaubens, die mit zäher Kraft sich im Alltagsleben der „gebildeten“ Gesellschaft forterhalten. Das Unglück aufzufassen als Fluch, der auf den „Pechvögeln“, gewissen Dingen und Situationen haftet: schier unausrottbar erhält sich diese Neigung aller Aufklärung und Bildung zum Trotz. Der vorurtheilslose Mensch lächelt wohl halb überlegen, halb mitleidig über das einzelne Vorkommniß, will er aber gegen diesen Aberglauben ankämpfen, welche Fülle „erwiesener Thatsachen“ und selbsterlebter Beispiele, gegen die er waffenlos ist, dringt dann auf ihn ein!

Vor einiger Zeit lief die Mittheilung durch die Zeitungen, der Aberglaube der nordamerikanischen Eisenbahnbeamten habe es dahin gebracht, daß die Lokomotive 1313 der Pennsylvania-Eisenbahn außer Betrieb gestellt worden sei. Schon die Nummer war eine unheimliche; die Maschine hatte aber angeblich auch in der That merkwürdig viel Unglück angerichtet, sodaß es dem gesammten Betriebe vor ihr graute. Gleich auf ihrer ersten Fahrt tödtete sie zwei Kinder. Im Sommer 1888 riß sie, von der Latrobebrücke hinabstürzend, einen Zug in die Tiefe, wobei der Maschinist, der Heizer und zehn andere Personen ums Leben kamen, zwölf Personen verwundet und sechs Wagen zerschmettert wurden. Ausgebessert, stieß sie kaum einen Monat später in der Nähe von Manor mit einem Güterzug zusammen. Es gab einen Todten, drei Verwundete und eine Anzahl zertrümmerter Wagen. Wenige Wochen nach diesem Unfall platzte der Kessel der Lokomotive und schleuderte Lokomotivführer und Heizer in die Lüfte, den ersteren tödtend, den andern schwer verwundend. Nach der Wiederherstellung rannte die Maschine abermals in einen andern Zug und that großen Schaden. Dann wurden nacheinander drei Menschen überfahren. Zuletzt platzte eine auf der Maschine gebrauchte Oelkanne und verletzte Lokomotivführer und Heizer schwer. Das alles wird der Unglückslokomotive nachgesagt, und weil, wie erwähnt, niemand mehr mit ihr fahren wollte, so rangirte man sie aus.

Amerika heißt die Neue Welt; aber in der neuen Welt, so scheint es, geht’s zu wie in der alten. Ist das nicht eine alte abgedroschene Geschichte, dieses verhängnißvolle Dampfroß der Pennsylvania-Eisenbahn?

Im Alterthum hatte man noch keine Eisenbahnen und kein Dampfroß, aber mit den lebendigen Rossen ungefähr ebensoviel Aerger wie die Menschen der Neuen Welt mit ihren Maschinen. Es gab im weiland Römischen Reich ein Pferd, einen fatalen Klepper, eine Schandmähre sondergleichen, verhängnißvoller als das hölzerne Trojanische Pferd, das war das Pferd des Sejus. Ich weiß nicht, ab es eine Schecke gewesen ist wie das Roß, vor dem Oktavio Piccolomini seinerzeit den Wallenstein gewarnt hat – unansehnlich war es angeblich nicht, aber wer es nicht kannte, mochte Gott dafür danken! Die edlen Römer, die es nach einander besaßen, hatten nichts als Unglück von ihm, allen seinen Reitern brachte es Verderben.

Der erste Besitzer war Cnejus Sejus, von dem es den Namen hatte: er wurde von Marcus Antonius, dem nachmaligen Triumvir, während des zweiten Bürgerkrieges zum Tode verurtheilt und starb auf dem Schafott.

Von Sejus erbte es Dolabella, der Schwiegersohn Ciceros, selbst ein sauberes Früchtchen. Der ließ sich im Iahre 43 v. Chr. in Laodicea, als die Stadt von Cassius genommen ward, von einem seiner Soldaten tödten, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen. Cassius hätte alles nehmen sollen, nur das verwünschte Roß nicht, er nahm es doch, und so geschah es, daß er sich nun nach seiner Niederlage bei Philippi ebenfalls durch einen Freigelassenen tödten ließ.

[170] Ein Unstern spielte das Unglücksthier dem Sieger Marcus Antonius selber in die Hände und er machte es zu seinem Leibroß; die Folge war, daß er bei Actium verspielte und sich dann, auf die falsche Nachricht vom Selbstmord der Kleopatra hin in sein eigenes Schwert stürzte.

Der Ruf des alten Rackers war nun hinreichend begründet, niemand mochte mehr den „Equus Sejanus“ reiten; endlich kaufte ihn doch noch Publius Nigidius Figulus, ein Philosoph und ein Gelehrter, der dem Teufel Trotz bieten wollte und auf des Rosses Rücken den Peloponnes durchquerte; als er mit ihm über den Eurotas setzte, stieg und bockte das Vieh plötzlich, stieg und bockte, stieg und bockte und begrub sich mitsammt dem Philosophen in den Wellen des angeschwollenen Gießbachs. Roß und Reiter sah man niemals wieder! Nun hatte die Menschheit Ruhe, aber die Erinnerung an den Unglücksgaul wich nicht aus dem Gedächtniß der antiken Welt, und wenn jemand ein rechter Pechvogel war, so hieß es, er habe das Pferd des Sejus.

Es giebt zweierlei Pechvögel: solche, die selber Unglück und – daher kommt eben der Ausdruck – wie gefangene Finken Pech (Vogelleim) an den Federn haben; und solche, die andern Pech oder Unglück bringen. Die letzteren nennt man lieber „Unglücksvögel“, französisch des Porte-malheur, Unglücksbringer. Der Gedanke ist der, daß ein Individuum, ein Thier, ein Ding in sich selbst Unglück enthalte, das Unglück anziehe wie der Magnet das Eisen und es allen bringe, die ihm nahe kommen. Wie ein Hufeisen dem Finder Glück bringt, daher man an vielen Orten, zum Beispiel in San Francisko, die Zimmer mit vergoldeten Horse-shoes ausschmückt, auf welche die Worte „Good Luck“ (Gut Glück) oder „Porte Bonheur“ (Bring Glück) geschrieben sind, so kennt der Aberglaube der Völker andre Dinge und, wie wir eben sahen, ganze Pferde, die das Gegentheil bewirken. Man denke an den verhängnißvollen, verfluchten goldenen Ring des Zwergs Andwari, den „Andwaranaut“, welchen Richard Wagner in den Ring des Nibelungen verwandelt hat, oder an einen neueren Goldreif, den Ring des verstorbenen Königs Alfons XII. von Spanien, an dessen Person sich die Sage überhaupt mit Vorliebe gehängt hat.

Bei seiner Hochzeit, am 23. Januar 1878, schenkte der König seiner Gemahlin Maria de las Mercedes, der dritten Tochter des Herzogs von Montpensier, einen kleinen Ring, welchen diese sechs Monate, bis zu ihrem Tode (26. Juni 1878), trug. Nach dem Ableben der Königin gab Alfons das Ringchen seiner Großmutter, die wiederum binnen kurzem starb. Das Kleinod fiel der Infantin del Pilar, der Schwester des Königs, zu: sie starb bereits einige Tage darauf. Zum zweiten Male wieder im Besitz des Ringes, schenkte ihn König Alfons der Infantin Christine, seiner Schwägerin, der zweiten Tochter des Herzogs von Montpensier. Drei Monate später war die Infantin todt. Nun entschloß sich der König, den Ring selbst zu tragen, und er that das bis zu seinem Tode (25. November 1885). Ietzt rechnete man in Spanien aus, daß im Laufe weniger Jahre zwei Königinnen, zwei Infantinnen und ein König an dem Ringe zu Grunde gegangen seien – niemand wollte ihn mehr in Verwahrung nehmen. Man gerieth schließlich auf den Ausweg, das Kleinod der Schutzpatronin von Madrid, der heiligen Jungfrau von der Einsamkeit, zu weihen, steckte jedoch den Ring auch der Mutter Gottes nicht an den Finger, sondern hing ihn dem Gnadenbilde an einem Bande um den Hals.

So wurde ein Halsband geschaffen – ein Halsband war wiederum im Alterthum berüchtigt, so berüchtigt wie das Halsband der Königin Marie Antoinette, und der Ring König Alfons XII. hat in der klassischen Zeit ein merkwürdiges Gegenstück in dem Halsband der Harmonia, der Tochter des Ares und der Aphrodite.

Ich will die lange Reihe der armen Schelme, die sich mit dem Halsband der Harmonia schmückten, nicht aufzählen, genug: es ruhte ein Verhängniß auf dem Geschenk, selbst dann noch, als es der letzte Erbe Akarnau im Tempel der Athene Pronoia zu Delphi aufgehängt hatte. Hier stahl es der Tyrann Phayllus, um es seiner Geliebten, der Gemahlin des Ariston, zu geben. Diese trug es eine Weile, aber plötzlich wurde ihr Jüngster verrückt, steckte ihr das Haus über dem Kopfe an, das Weib kam mit allen seinen Schätzen und dem leidigen Halsband in den Flammen um.

Mit Halsbändern und Ringen, mit Pferden und Lokomotiven sind die Quellen des Unglücks für den naiven Glauben der Völker noch immer nicht erschöpft; vielmehr sind angeblich als solche gewisse Menschen selber anzusehen. Ich denke hier nicht an die alte Hexe, die uns den Tag verdirbt, weil sie uns beim ersten Ausgang am frühen Morgen begegnet ist – ich denke auch nicht an den seltsamen Druck, den die Gegenwart gewisser Persönlichkeiten auf gewisse andere Persönlichkeiten ausübt und der meist auf das Gefühl der Ueberlegenheit von der einen Seite zu schieben ist. Es giebt ja Männer, die in einer bestimmten Gesellschaft sozusagen ihre Selbständigkeit verlieren, unsicher werden, weder so gut reiten, noch so gut schießen, noch so gut reden wie sonst; Shakespeare drückt das so aus, daß der Geist, der sie beschütze, ihr Dämon, gleichsam schüchtern und wie überwältigt werde. Einen solchen Druck übte zum Beispiel Cäsar Octavianus auf Marcus Antonius aus, den der Wahrsager warnte. „Fliehe ihn“, sagte der tiefe Menschenkenner,

„Versuche du mit ihm, welch Spiel du willst,
Gewiß verlierst du; sein natürlich Glück
Schlägt dich, wie schlecht er steht; dein Glanz wird trübe,
Strahlt er daneben: noch einmal, dein Geist,
Kommt er ihm nah, verliert den Muth, zu herrschen,
Doch ihm entfernt, erhebt er sich –“

Nein, ich denke an etwas ganz anderes, psychologisch Unerklärliches.„“

Zu allen Zeiten hat man geglaubt, daß gewisse Menschen, ja ganze Menschenklassen an sich und unter allen Umständen Unglück bringen. Man schiebt dabei das Mißgeschick besonders auf das Auge, den „Bösen Blick“ des Unglücksbringers, man glaubt in der halben Welt, bei Deutschen, Russen, Griechen, Italienern, Juden, an die Bannkraft des Auges und hat bereits im klassischen Alterthum daran geglaubt. In Rußland schreibt man, wie Turgenjew erzählt, den Geistlichen die Gabe des bösen Blickes zu. „Ein Pope hat mich heute besucht,“ sagt Fimuschka, „und siehe da, gleich ist die Sahne sauer geworden!“

Indessen scheint mir der Blick nur ein sinnlicher Ausdruck für die Gegenwart der ganzen Person zu sein, die gleichsam Unglück ausströmt; des Blickes bedarf es gar nicht, um den Unglücksvogel fertig zu machen, er wirkt an sich selbst. Jedenfalls ist der Blick nur ein Mittel des Bösen, es einem anzuthun, wie z. B. das sogenannte Berufen oder das Beschreien eines ist; es bedarf aber auch gar keiner Mittel – die bloße Erscheinung des Unglücksvogels, seine Anwesenheit genügt, das Schicksal zu entfesseln und eine endlose Reihe von Widerwärtigkeiten hervorzubringen. Wenn der Tausendsasa im Zuge sitzt, passiert ein Unglück, sogut wie bei der Lokomotive 1313; geht er ins Theater, so brennt es ab, und macht er die Partie mit, so regnet’s. Was sollen wir von solchen angeblichen Unglücksbringern, solchen Unglücksvögeln halten? – Daß sie selber Unglück haben!

„Es giebt keinen Zufall; und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“ So sagt der abergläubische Wallenstein. Aus Quellen steigt freilich alles: es geschieht nichts ohne Ursache, und was wir Zufall nennen, ist sicher ebenso nothwendig, ebenso gesetzmäßig wie jede natürliche Erscheinung überhaupt. Es kommt nur darauf an, welche Quellen man suchen und ob man als Ursache gelten lassen will, was die gemeine Stimme den Ereignissen unterzuschieben liebt, oder ob man sich bescheidet, daß die wahre Ursache vorläufig noch unbekannt und die Absicht, die aus dem Zusammentreffen gewisser Umstände hervorzuleuchten scheint, eben nur ein Schein sei. In diesem Sinne kann man behaupten, daß fast alle Irrthümer des Menschengeschlechts vom Zufall herkommen und daß die Aufgabe der Wissenschaft darin bestehe, die zufällige Natur von Dingen aufzudecken, die der Laie, durch falsche Vergleichungen verführt, mit seinen phantastischen Erklärungen abgethan zu haben glaubt.

Wenn eine Prophezeiung merkwürdigerweise eintrifft, zum Beispiel der Fürst Poniatowski, wie vorausgesagt, durch eine Elster stirbt oder König Heinrich IV. von England, wie vorausgesagt, sein Leben in „Jerusalem“ beschließt, das heißt in einem Zimmer dieses Namens, so glaubt die Menge an die Gabe der Weissagung. Der Weise aber sagt: es ist Zufall.

Man glaubt, daß es im Leben der einzelnen und der Völker vollkommene Unglückstage gebe, an welchen alles mißlingt, man mag anfangen was man will, und jede Unternehmung scheitert. Die Römer hatten ihre Dies atri, ihre „schwarzen Tage“ und ihre Dies Allienses, d. h. Unglückstage wie denjenigen, da sie von den Galliern an der Allia besiegt wurden. Die Juden betrachten den Monat Ab, unserem Juli oder August entsprechend, als den [171] schwärzesten Monat des Jahres, denn zweimal in diesem Monat, und zwar beide Male am 9. Ab, ward der Tempel zu Jerusalem zerstört.

Erst neuerdings hat man daran erinnert, welch verhängnißvolle Rolle der Monat Januar in der Geschichte der belgischen Königsfamilie spielt. Als am 1. Januar 1890 der Königspalast von Laeken in Flammen stand, rief die Königin, als man ihr den Brand meldete: „Ach, der Monat Januar bringt uns immer Unglück!“ Das ist nicht unbegründet, wie aus folgenden geschichtlichen Daten hervorgeht: Im Januar 1867 wurde Kaiserin Charlotte von Mexiko, die Schwester des Königs, wahnsinnig infolge der übermäßigen Anstrengungen und Aufregungen, welchen sie sich unterzogen hatte, um den wankenden Kaiserthron ihres Gemahls zu stützen; am 23. Januar 1869 starb der einzige Sohn des Königs, der Kronprinz und Herzog von Brabant; im Januar 1881 wurde das königliche Schloß, in welchem die Kaiserin Charlotte wohnte, durch einen Brand zerstört; am 30. Januar 1889 endete im Drama von Meyerling der Schwiegersohn des Königs, Kronprinz Rudolf von Oesterreich; am 1. Januar 1890 wurde das königliche Schloß von Laeken ein Raub der Flammen, und am 23. Januar 1891, am gleichen Tage wie der frühere Kronprinz, starb der neue Kronprinz, der Neffe des Königs, Prinz Balduin.

In Bayern, im Salzburgischen, im Elsaß fürchtet man die sogenannten Schwendtage, das heißt die Unglückstage; besonders mannigfach ist die Tagewählerei bei den Russen und Finnen, Indern, Chinesen und Japanern. Wenn sich so mehrmals Schlimmes an einem und demselben Tag ereignet, so schiebt es die Menge mit dem Herzog von Friedland auf die Gestirne, auf eine himmlische „Influenza“ (das Wort bedeutet eigentlich den Einfluß der Gestirne), auf das Fatum und auf alle möglichen geheimnißvollen Mächte; der Weise aber sagt: es ist Zufall. Wenn ein einzelner Mensch vom Unglück verfolgt wird – und wer wollte das Vorhandensein außergewöhnlicher Pechvögel leugnen, die im Grase stolpern, auf den Rücken fallen und sich die Nase brechen? – so hält sich das Volk an den Stern, unter dem dieser Mensch geboren, an die blinde Fortuna und an die Vorherbestimmung. Der Weise behauptet: es ist Zufall! Warum sollte sich nicht infolge von Bedingungen, die wir nicht kennen, das Gute und das Böse, das im allgemeinen gleichmäßig vertheilt ist, einmal zusammendrängen können, daß es dicht beisammen steht und, nach einem italienischen Ausdruck, ein „Sack von Unglück“ draus wird? Als der liebe Gott die Gebirge säte, so erzählen sie in der Türkei, und er gerade über Montenegro war, bekam der Sack ein Loch – so geht’s! Wie kann man immer gleich wissen, daß der Sack ein Loch hat!

Item: auch bei den sogenannten Unglücksvögeln, von denen das Volk das Pech anderer herleitet, wird der verständige Mann nichts weiter bewundern als das Spiel des Zufalls – wohl eingedenk, daß der Aberglaube, einmal befestigt, allerdings eine wirkliche Macht wird und durch die Furcht, die er einflößt, die Befangenheit und Unsicherheit, die er erzeugt, thatsächlich Schaden bringen kann. Laßt es einmal ruchbar werden, daß die Lokomotive der Pennsylvania-Eisenbahn verhext sei, so verliert der Lokomotivführer den Kopf und ein neuer Eisenbahnunfall folgt. Und das ist eben bei Menschen das Traurige, daß, wenn sie einmal das Unglück haben, für Unglücksbringer angesehen zu werden, sie nun auch wirklich Unglück anziehen. Denn ein Unglück und ein belangloser Zufall ist es ja doch nur, was das Pferd des Sejus und das Halsband der Harmonia und die Leute mit dem bösen Blicke in Verruf gebracht hat – eines jener räthselhaften Zusammentreffen, von denen das Leben voll ist, die der gesunde Menschenverstand verachten sollte, weil sie nach den Regeln der Mathematik gelegentlich eintreten müssen, die nichtsdestoweniger den Leuten den Kopf nur allzuoft verwirren und die bedauernswerthen Unglücksvögel noch bedauernswerther machen, als sie sind. Soviel herzbrechendes Elend mit ansehen zu müssen und immer dazu zu kommen, wenn etwas Schlimmes passiert, ist an sich schon Mißgeschick genug. Es noch dazu verschulden zu sollen, hat etwas Uebermenschliches. Das Sprichwort sagt: ein Unglück kommt selten allein. Wenn es aber in Gesellschaft eines und desselben unschuldigen Menschen wiederholt kommt, was ist daran erstaunlicher, als wenn sich zwei Fußgänger auf der Oranienbrücke zu Berlin zweimal begegnen?

Man hat berechnet, daß auf derselben täglich durchschnittlich 79 932 Menschen verkehren.
Rud. Kleinpaul.