Sommerfrischler und Touristen

Textdaten
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Autor: Paul Dehn
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Titel: Sommerfrischler und Touristen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 403-404
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[403] Sommerfrischler und Touristen. Das sehnsüchtige Bedürfniß, in der freien Natur seinen durch das städtische Treiben ermüdeten Geist von Neuem zu beleben, welches seit Winckelmann und Goethe den modernen Culturmenschen erfüllt, ist heutzutage leichter denn jemals zu befriedigen. Die Eisenbahn führt alljährlich Hunderttausende nach jenem Lande,

„… wo die Citronen blüh’n,
Im dunklen Laub die Goldorangen glüh’n,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht …“

und Millionen von Städtern, nicht nur Einzelnen, wie ehedem, erweist Gott heutzutage „rechte Gunst“, um mit Eichendorff zu reden, schickt sie in die weite Welt und zeigt ihnen seine Wunder „in Feld und Wald“. Mit jedem Sommer entwickelt sich eine steigende Volkswanderung von der Stadt auf’s Land, von der Ebene in die Berge oder an die See zur Sommerfrische. Allgemein ist namentlich in den größeren Städten das Bedürfniß nach zeitweiliger Erholung in Gottes freier Natur. Der Eine geht nicht weit von Hause weg; den Anderen treibt es in entlegene Fernen, und wem es an Zeit und Geld mangelt, der begnügt sich mit sonntäglichen Ausflügen in die Umgegend seines Wohnortes. Doch wie immer diese Schaaren benannt werden mögen: Sommerfrischler, Vergnügungszügler, Touristen, Badereisende, Ausflügler, Bergfexen u. dergl. m. – es ist dasselbe Gefühl, welches sie erfüllt, dasselbe Bedürfniß, welches sie treibt, dasselbe Ziel, welches sie lockt.

Seit Rousseau, Goethe und den Romantikern haben wir das, was Alexander von Humboldt das Naturgefühl genannt hat. Im Anschauen der Natur bewundern wir nicht nur die Majestät ihres Schöpfers, wie der lobsingende Psalmist, schätzen wir nicht nur die Annehmlichkeiten und Behaglichkeiten des Landlebens, wie die Zeitgenossen des Horaz, preisen wir nicht nur das Zweckmäßige und Reichliche oder das Idyllische und Liebliche, wie die kleinen Poeten vor unserer classischen Literaturepoche, sondern wir erfreuen uns der Natur um ihrer selbst Willen.

Was die arbeitsame Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts auf’s Land hinaustreibt, ist nun freilich das Naturgefühl nicht allein. Hier haben noch andere Verhältnisse wirksam eingegriffen, vor Allem das Anwachsen der Städte, die mangelhaften Wohnungen in den engen, dichtbevölkerten Großstädten, das Bedürfniß nach Ruhe und Erholung, nach körperlicher Uebung und Abhärtung, nach Luftveränderung, Badegelegenheit etc. neuerdings mit der steigenden Entwickelung der Naturwissenschaften auch das Interesse an wissenschaftlichen Forschungen.

War so mit dem Naturgefühl in dem modernen Städter das Bedürfniß nach der freien Natur vorhanden, so hatten inzwischen die neuen Verkehrsmittel dafür gesorgt, daß der Neigung und dem Bedürfniß auch entsprochen werden konnte, und nachdem diese Vorbedingungen für das Gedeihen des Sommerfrischler- und Touristenwesens gegeben waren, gewann alsbald die neue Erscheinung zusehends an Umfang und Bedeutung. Wie sie zuerst am Rhein auftauchte, wo reisende Engländer über Belgien den Weg nach der Schweiz und Italien nahmen, wie der Rhein gegen Ende der zwanziger Jahre durch Eröffnung einer regelmäßigem Dampfschifffahrt von Basel bis zur See rasch belebt und zum Zielpunkt aller Lustreisenden erhoben wurde, wie inzwischen aus diesen ersten Anfängen in steter Steigerung das moderne Sommerfrischler- und Touristenthum erstand, das gehört, obschon vergangen, der Gegenwart an, weil wir es Alle miterlebten. Heute vollziehen sich mit jedem Frühling und Sommer Einzel- und Massenwanderungen, wie sie keine frühere Zeit gekannt hat.

Da sind zunächst die Sommerfrischler; sie lassen sich mit Kind und Kegel am liebsten in der nächsten Nähe ihres Wintersitzes nieder, in Berlin spreeabwärts und spreeaufwärts bis in die märkische Schweiz hinein, in Wien den ganzen Wiener Wald entlang, in München isaraufwärts und am Starnbergersee, in Dresden bis zur sächsischen Schweiz. Die Königsberger, Danziger, Stettiner, Hamburger etc. gehen an’s Meer oder auf die Inseln, der Binnenländer an den Strom oder See dem Gebirge entgegen.

Im Harz und in Thüringen, im Taunus und am Mittelrhein, in den Vogesen und im Schwarzwald, in der Schweiz, am Bodensee, in den oberbaierischen Bergen und an ihren Seen, in der märkischen, fränkischen, sächsischen, böhmischen, schwäbischen und baierischen Schweiz sind Hunderte von Dörfern und Märkten zu Sommerfrischen geworden und Hunderte auf dem Wege begriffen, es zu werden. Dasselbe sehen wir auf Rügen, Norderney, Helgoland, auf den holsteinischen Inseln oder an den Küsten der Ostsee und Nordsee. Wo Wald, Wasser und Berge sind, da finden sich jetzt gewiß auch Sommerfrischler aus der Stadt ein.

Nicht so der Tourist; er unterscheidet sich von dem Sommerfrischler wie der Unternehmer einer Landpartie vom bloßen Spazierganger; er hat einen Plan und ein Ziel; er macht eine wirkliche Rundreise; er wandert zu Fuß und sucht nicht in der Ruhe, sondern in anstrengenden Märschen Erholung und Anregung; er ist weder alt noch krank, höchstens Hypochonder; er ist ein Mann der Arbeit, und die Berge sind seine Welt, vor Allem die Alpen, aber auch heimische Mittelgebirge. Bewußt und strebend, wie er ist, vereint er sich mit seines Gleichen, und ihm ist es zu danken, wenn die neue Erscheinung, welche er repräsentirt, ihre Tendenz vertieft, ihre Kraft durch Bildung von Vereinen[1] systematisch nutzbar gemacht hat.

Alle diese Vereine haben sich die Aufgabe gestellt, die Kenntniß der Alpen, Vogesen etc. zu erweitern und zu verbreiten, sowie ihre Bereisung zu erleichtern, und zur Erfüllung ihrer Aufgabe veröffentlichen sie in ihren Organen, Monatsschriften und Jahrbüchern Mittheilungen über Theorie und Praxis des Bergfahrtenwesens, oft von geologischem, meteorologischem, anthropologischem, mineralogischem und zoologischem Werth; sie legen ferner neue Wege an oder markiren solche durch Weiser oder Zeichen; sie regeln das Führerwesen, veranstalten gesellige Zusammenkünfte und gemeinsame Ausflüge und erweitern zugleich fort und fort ihre Thätigkeit, welche eine gemeinnützige ist, da sie jedem Bergfreund zu Gute kommt. Wer sich über diese Vereine unterrichten will, findet in dem jüngst erschienenen „Handbuch des alpinen Sports“ von Julius Meurer (Wien, Hartleben’s Verlag) einem allerliebst ausgestatteten eleganten Handbuch, erschöpfende Auskunft.

Erst eine spätere Zeit wird den ganzen Umfang dieser neuen socialen Erscheinung zu erkennen vermögen. Nur nach drei Richtungen hin seien schon jetzt ihre Einwirkungen angedeutet.

Vom Berge droben schaut der Städter in’s Thal, vom Odilienberge etwa in’s Rheinthal, über die weite Ebene mit ihren Hunderten von Dörfern hinweg. Er erkennt in dem Thale das einstige Becken des Rheinsees, wie er vor dem Durchbruche des Stromes bei Bingen vorhanden gewesen; er erblickt in der Heidenmauer die räthselvollen Spuren der Ureinwohner der Gegend; er tritt Angesichts der gewaltigen Burgruinen den Kämpfen vergangener Zeiten näher, und dabei fallen ihm die korn- und weinbepflanzten Abhänge, die Fabriken in der Ebene, das Münster am Saume des Horizonts und tausend andere Dinge in’s Auge, welche anregend wirken und oft zu neuem Streben und schaffen den ersten Anstoß geben. Da spiegeln sich Welten wieder in dem Individuum wie in dem Thautropfen der Sonne, und wenn dann dieser Mann auf der Rückkehr in sein Heim hier noch eine fremde Ausstellung besucht, dort die unvergleichlichen Specialwerkstätten, Museen oder Bibliotheken besichtigt, dann wird sich in ihm – bewußt oder unbewußt – der tiefgehende Einfluß [404] des modernen Touristenthums, wenn auch nicht immer unmittelbar, offenbaren, und er wird die Befreiung von Scholle und Gewohnheit preisen, welche ihm die Enge und Beschränktheit seines Strebens- und Wirkungskreises vor Augen führt und ihn darüber erhebt.

Neben dieser Erweiterung des persönlichen geistigen Horizonts hat das Touristenthum noch das Gute im Gefolge, daß Literatur und Kunst von ihm neue Impulse empfangen; denn es steht in engem Zusammenhange mit der neuen Erscheinung des Touristenthums, daß Dorfgeschichten, Touristen- und Badenovellen in Aufnahme gekommen sind, daß oberbaierische und andere Volksschauspiele gern gehört werden, daß Malerei und alle vervielfältigende Kunst die Landschaftsbilder zu fixiren suchen, welche dauernd erfreuen.

Und endlich hat sich da, wo Sommerfrischler und Touristen verkehren, eine eigene Fremdenindustrie herausgebildet, am vollkommensten zunächst in der Schweiz und in den bekannteren Bade-Orten. Sommerfrischler und Touristen wollen beherbergt, verpflegt und befördert werden und so sind Sommerwohnungen, Villen, Gasthöfe, Wirthschaften etc. zu Tausenden errichtet worden, nicht selten auf Bergeshöhen, welche beschwerlich zu erklimmen sind, oder in Gegenden, wo außerhalb der Fremdensaison jeder Erwerb unmöglich wäre. Nach der Schweiz tragen die Touristen erwiesenmermaßen alljährlich zwischen sechszig und hundert Millionen Mark, und manch armes Fischerdorf an der Küste oder ein armer Markt im Gebirge hat sich in Folge eines rasch aufgeblühten Fremdenverkehrs zu Behaglichkeit und Wohlhabenheit aufgeschwungen.

Sympathisch möge die neue Erscheinung auch in Zukunft beobachtet werden; denn sie ist entwickelungsfähig. Für den Einzelnen wie für die Menschheit bedeutet sie einen neuen Fortschritt. Paul Dehn.     

  1. Dem „Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein“ gehören 10,000, dem „Vogesenclub“ 2500, dem „Sächsischen Erzgebirgsverein“ und dem „Gebirgsverein für die sächsisch-böhmische Schweiz“ je 1500, dem „Rhönclub“ 1800, dem „Thüringer Waldverein“ 1300, dem „Lausitzer Gebirgsverein“ 1200, dem „Voigtländischen Gebirgsverein“ 900, dem „Taunusclub“ 800, dem „Schwarzwaldverein“ 600 und dem „Verein der Spessartfreunde“ 500 Mitglieder an, und fast noch mehr Touristen zählen die ähnlichen Vereine in Oesterreich-Ungarn.