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Gedeihens noch viele künftige Jahre erhalten; aber ich fürchte, wir fangen an, überbildet zu werden; wenigstens hat sich jeder, der nichts lernen kann, daran gemacht zu lehren – so weit ist wahrhaftig unsere Erziehungsbegeisterung jetzt gekommen. Jedenfalls übrigens tätest du besser, zu deiner lästigen unbequemen Natur zurückzukehren und mich meine Korrektur lesen zu lassen.

Cyrill: Sieh da, du schreibst einen Artikel. Nach dem, was du eben gesagt hast, ist das nicht sehr konsequent.

Vivian: Wer braucht konsequent zu sein? Der Dummkopf und der Doktrinär, die widerwärtigen Menschen, die ihre Prinzipien zum bittern Ende der Ausführung bringen, zur reductio ad absurdum der Praxis. Aber nicht ich. Wie Emerson bringe ich über der Tür meines Arbeitszimmers das Schild an: „Zur Laune“. Außerdem aber ist mein Artikel eine sehr heilsame und wertvolle Warnung. Wenn man sie befolgt, kann die Kunst eine neue Renaissance erleben.

Cyrill: Wovon handelt er?

Vivian: Ich denke ihm den Titel zu geben: „Der Verfall des Lügens. Ein Protest.“

Cyrill: Lügen! Ich hätte gedacht, unsere Politiker nehmen sich dieses Brauchs an.

Vivian: Ich versichere dich, sie tun es nicht. Sie kommen nie über die Schwelle der Entstellung hinaus, und sie sinken in Wahrheit bis zu Beweisen, Diskussionen, Gründen. Wie anders ist der Charakter des richtigen Lügners, mit seinen freimütigen furchtlosen Feststellungen, seiner himmlischen Unverantwortlichkeit, seiner gesunden, natürlichen Verachtung jeder Art Beweisführung! Was ist denn überhaupt eine gute Lüge? Einfach, was sich von selbst versteht. Wenn ein Mann so phantasielos ist, daß er zur Unterstützung einer Lüge Beweise herbeibringt,

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)