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nämlich die Handlung, die Bedingungen, unter denen sie sich kundgibt, nämlich die der theatralischen Aufführung, ihren logischen Aufbau, nämlich die Form des Knotens, und ihre schließliche ästhetische Bestimmung, die an den Schönheitssinn sich wendet und sich verwirklicht durch die Affekte des Mitleids und der Furcht. Die Reinigung und Vergeistigung der Natur, die er Katharsis nennt, ist, wie Goethe gesehen hat, in ihrem Wesen ästhetischer Art, und nicht, wie Lessing wähnte, moralischer. Aristoteles befaßt sich in erster Linie mit dem Eindruck, den das Kunstwerk hervorbringt, und geht daran, diesen Eindruck zu analysieren, ihn zu seinem Ursprung zu verfolgen, zuzusehen, wie er erzeugt wurde. Als Physiolog und Psycholog weiß er, daß die Gesundheit einer Funktion auf der Energie beruht. Die Anlage zu einem Affekt haben und ihn nicht in die Wirklichkeit bringen, heißt, sich selbst unvollkommen machen und beschränken. Das mimische Schauspiel des Lebens, das die Tragödie bietet, befreit die Brust von manch „gefährlichem Stoff“ und reinigt und vergeistigt den Menschen dadurch, daß hohe und würdige Gegenstände für die Erregung der Gefühle sich darbieten; ja, es vergeistigt ihn nicht nur, sondern es weiht ihn auch in edle Empfindungen ein, von denen er sonst nichts gewußt hätte, wenigstens ist es mir oft so vorgekommen, als enthalte das Wort Katharsis eine entschiedene Anspielung auf solchen Einweihungsritus, wenn nicht Einweihung, wie ich manchmal versucht bin zu glauben oder zu träumen, hier die wahre und einzige Bedeutung des Wortes ist. Was ich hier sage, ist natürlich nur eine flüchtige Skizze des Buches. Aber du siehst, was für ein vollkommenes Stück ästhetischer Kritik es ist. Wer wahrlich außer einem Griechen hätte die Kunst so

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/76&oldid=- (Version vom 1.8.2018)