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CYRILL (DURCH DIE OFFENE TÜR von der Terrasse her eintretend): Liebster Vivian, vergrab dich nicht den ganzen Tag unter den Büchern. Es ist ein entzückender Nachmittag. Die Luft ist herrlich. Auf den Wäldern liegt ein Duft wie der Purpurhauch auf einer Pflaume. Wir wollen hinausgehen und uns ins Gras legen und Zigaretten rauchen und die Natur genießen.

Vivian: Die Natur genießen! Ich darf mit Vergnügen sagen, daß ich dieses Talent völlig verloren habe. Man erzählt uns, die Kunst befähige uns, die Natur mehr als zuvor zu lieben; sie enthülle uns die Geheimnisse der Natur, und nach einem tiefen Erfassen Corots und Constables sähen wir Dinge in der Natur, die wir früher nicht gewahrten. Meine Erfahrung ist, daß wir, je mehr wir uns der Kunst hingeben, uns um so weniger aus der Natur machen. Was uns die Kunst in Wahrheit enthüllt, ist die Planlosigkeit der Natur, ihre seltsamen Roheiten, ihre außergewöhnliche Einförmigkeit, ihre komplette Unfertigkeit. Die Natur hat natürlich gute Absichten, aber, wie der alte Aristoteles sagte, sie kann sie nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte, sehe ich unwillkürlich alle ihre Mängel. Es ist jedoch ein Glück für uns, daß die Natur so unvollkommen ist, weil wir sonst überhaupt zu keiner Kunst gekommen wären. Die Kunst ist unser feuriger Protest, unser tapferer Versuch, der Natur ihr Ziel zu weisen. Und die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur, das ist die reine Legende. In der Natur selbst ist nichts davon zu finden. Diese Mannigfaltigkeit wohnt in der Idee oder in der Phantasie oder der durch Bildung erlangten Blindheit des Menschen, der die Natur ansieht.

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)