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Nein, Gerechtigkeit ist keine der Eigenschaften des wahren Kritikers. Sie ist nicht einmal eine Bedingung der kritischen Tätigkeit. Jede Kunstform, mit der wir in Berührung kommen, beherrscht uns für den Moment bis zum Ausschluß jeder andern Form. Wir müssen uns dem Werk, es mag sein, wie es will, ganz und gar hingeben, wenn wir hinter sein Geheimnis kommen wollen. Solange dürfen, können wir fürwahr an nichts anderes denken.

Ernst: Der wahre Kritiker wird jedenfalls vernünftig sein; oder auch das nicht?

Gilbert: Vernünftig? Es gibt zwei Wege, Ernst, die Kunst nicht zu lieben. Der eine ist, sie nicht zu lieben. Der andre ist, sie vernünftig zu lieben. Denn die Kunst schafft, wie Plato nicht ohne Bedauern erkannt hat, im Zuhörer und Zuschauer eine Art göttlichen Wahnsinns. Sie entspringt nicht aus der Inspiration, aber sie versetzt die andern in diesen Zustand. Vernunft ist nicht die Kategorie, an die sie sich wendet. Wenn man die Kunst überhaupt liebt, muß man sie über alles in der Welt lieben, und gegen solche Liebe würde die Vernunft, wenn man auf sie hörte, rebellieren. Der Kultus der Schönheit hat nichts mit gesundem Verstand zu tun. Sie ist zu herrlich, um verständig zu sein. In wessen Leben sie eine beherrschende Rolle spielt, der wird der Welt immer ein wahnwitziger Schwärmer scheinen.

Ernst: Nun, mindestens wird der Kritiker ehrlich sein.

Gilbert: Ein bißchen Ehrlichkeit ist eine gefährliche Sache, und sehr viel davon ist schon völlig verhängnisvoll. Der wahre Kritiker ist selbstverständlich in seiner Hingebung an das Prinzip der Schönheit immer ehrlich, aber er sucht nach der Schönheit in jedem Zeitalter und in jeder Richtung und duldet nie, daß er durch