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zumal in Büchern der Andacht und Klostercellen, zu suchen. Der Kirchenstyl der mittleren Jahrhunderte ist eine so eigne Sprache, als die romanische, die neben ihr galt, nur seyn kann. Die Welt ihrer Gegenstände ist eine andre als die Welt der Römer; so auch der Geist und Sinn, mit dem man diese Gegenstände behandelte und ansah. Auch die lateinische Sprache der mittleren Zeiten hat ihre Perioden und in diesen ihre sehr verschiednen Schriftsteller, gute, mittelmäßige, schlechte. Vollends der Geist ihrer Dichtkunst war vom römischen ganz verschieden; und doch hats Liebhaber des Studium dieser Zeiten gegeben, die auch ihnen ihre Grazie und Schönheit zustanden. Eine gewisse Innigkeit und Schmucklose Einfalt, eine populare Herzlichkeit und Rührung wird niemand, der die besten Producte dieser Jahrhunderte kennet, ihnen nicht absprechen können. Dem sei aber wie man wolle; damals schrieb man die Legenden für seine Zeit, uns erzähle man, wenn man will, die Denkwürdigsten für unsre Zeiten.

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1797, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_6.pdf/294&oldid=- (Version vom 1.8.2018)