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und einer jeden Familie ist, eine Religionsform also, welche man nur irrigerweise als eine höhere Stufe im Vergleich zu der — in ihren Anfängen stets polytheistischen — Naturverehrung hat bezeichnen wollen, welche vielmehr als die primitivste anzusehen ist, die wir kennen. Die gestorbenen Vorfahren werden als schützende Genien gedacht und verehrt; die Feinde nebst ihrer ganzen Sippschaft werden nach dem Tode zu bösen Gespenstern, so dass diese Religionsstufe, von der wir übrigens in vielen höher entwickelten Religionen ganz folgerichtig bedeutende Nachwirkungen und Überbleibsel bemerken, mit einem ausgeprägtem Gespensterglauben aufs engste verknüpft ist. Es ist kein Zufall, dass unter den japanischen Sagen gerade die hierauf bezüglichen einen so grossen Teil ausmachen, wie dies auch aus meiner Sammlung japanischer Sagen und Märchen (Leipzig bei W. Friedrich 1885) erhellt, freilich nicht einmal in einem der Wirklichkeit völlig entsprechenden Masse, da die fabulierende Kraft des Volkes unaufhörlich sich auf diese Seite wirft und eine Unzahl derartiger Geschichten schafft, die nur an sich meist zu unbedeutend und zu eintönig sind, um eine Aufzeichnung zu verdienen. Auf diesem Kultus der persönlich mit dem Einzelnen verknüpften Toten ist in Japan die übrige alte Götterlehre erst aufgepfropft; die Naturkräfte, deren Kultus aus dem eigentlich chinesischen und aus dem indischen (arischen) Kreise zu den Japanern gelangte, bewahrten allerdings in gewisser Weise ihre Attribute; die Götter oder Heroen sind als Repräsentanten der Sonne, des Donners u. dgl., die Dämonen als die der Wolken und der Finsternis noch ganz wohl zu erkennen, aber dies ist im Grunde mehr Folge eines mechanischen Festhaltens an der Form der empfangenen Anregungen, und auf alle Fälle ist die Verehrung dieser Gottheiten im Schintoo nur dadurch motiviert, dass man sie zu Stammvätern teils des ganzen Volkes, teils des Herrschergeschlechts machte und ihnen in derselben Weise, wie den persönlichen Vorfahren, nur in weiterem Kreise ihre Opfer — richtiger Totenopfer — darbringt. Eine Folge davon ist auch das ausserordentlich starke Zurücktreten der Ethik in dem Schintoo. Der Japaner, der die Aussenwelt, die Natur, sich selbst und dem ganzen Menschengeschlecht nicht in der ehrfurchts- und pietätvollen Weise gegenübersetzt, wie die Völker mit richtig entwickelter Naturreligion, beschränkte in alter Zeit alle seine ethischen Vorschriften auf körperliche Reinlichkeit — welche ja aus naheliegenden Gründen überall mit dem Überwiegen des Totenkultus eng verknüpft ist — und erst die Chinesen brachten ihm wirklich moralische Satzungen, welche er eigentlich bis zum heutigen Tage, sofern sie sich nicht auf die Familie beziehen, mehr als etwas Äusserliches betrachtet.

Die Aino dagegen haben eine ganz ausgesprochene polytheistische Naturreligion, völlig entsprechend der der Indogermanen; sie verehren die Naturkräfte des Himmels, die Himmelslichter, den Donner, das Wasser etc. als dem Menschen gegenüberstehende oder vielmehr erhaben über ihm schwebende Mächte, denen zu gefallen jedermann zu gewissen Dingen verpflichtet ist, welche in ihrem Zusammenhange ein wahres Sittengesetz ausmachen. Lügen, Betrügen, Gewaltthat an anderen ist gegen die Gebote der Götter, und wenn daneben in die religiösen Satzungen sich manches Äusserliche mengt, z. B. das Verbot, das Wasser unnützerweise zu verunreinigen

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_221.png&oldid=- (Version vom 20.11.2023)