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Kalevala-Studien.
Von
J. Kronn.
(Übersetzt von Viktor Hackmann.)
(Fortsetzung und Schluss.)     


4. Wann entstand die Kalevala?

Man könnte hierauf antworten, dass sie fortgesetzt in jeder Stunde verändert und aufs neue gebildet wird. Niemals singt ein und derselbe Sänger einen längeren Gesang zweimal auf vollständig gleiche Art. Hier und da vergisst er etwas, an anderen Stellen fügt er etwas hinzu, was er das erste Mal ausgelassen hat; er verwandelt die grammatikalischen Formen eines Teiles der Worte (z. B. den Singular in den Plural), oder setzt irgend ein anderes Wort, ja sogar einen ganz neuen Vers an Stelle der erst gesungenen ein. Sänger von unstätem Charakter nehmen noch grössere und wichtigere Veränderungen vor, besonders wenn zwischen zwei Aufzeichnungen eine längere Reihe von Jahren verstrichen ist. Auf Grund dessen sehen wir in der Kalevala, neben dem Uralten, vieles vollständig Moderne. Das letztere würde in noch viel grösserem Masse zur Erscheinung kommen, wenn nicht Lönnrot aus leicht begreiflichen Gründen die Ausdrucksweisen vermieden hätte, welche zu sehr an unsere jetzige Zeit erinnern. In einer Variante z. B. späht Joukahainen (der in den Handschriften meistens der dritte Kamerad Wäinämöinens und Ilmarinens auf der Sampofahrt ist) mit einem Fernrohre nach dem herannahenden Pohjolafahrzeuge aus. In einem der Verse, in welchen die Herrin von Pohjola dem Bier begehrenden Lemminkäinen antwortet, gibt sie in einem Teile der Varianten zu wissen, dass der Kaffee schon kannenweise ausgetrunken worden ist. Anstatt dieses Lieblingsgetränkes der Neuzeit sicht man an dieser Stelle gewöhnlich kalja, Dünnbier, und in ein paar Varianten hat sich das Wort kalja erhalten, welches jetzt im Finnischen ungebräuchlich ist, aber auf esthnisch noch Opfertrank bedeutet. Hieraus geht hervor, wie vorsichtig man sein muss, wenn man auf den Gesängen, besonders der gedruckten Redaktion entnommenen Angaben ethnographische oder historische Hypothesen aufbaut.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_209.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)