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eines grossen Flusses; aber die Esthen nennen ihn Wanamuine, das ist „alt ehemals“, wo der letztere Teil der Zusammensetzung als ein Adverbium betrachtet wird. Infolgedessen ist auch die Beugung des Namens immer sehr merkwürdig und unnatürlich. „Von (über) Wäinämöinen“ heisst nämlich in den esthnischen Gesängen Wanamuinest, nicht Wanamuisest, wie es nach der Regel für alle Nomina auf —ne heissen müsste, in Übereinstimmung mit dem finnischen Wäinämöisestä.

Andererseits finden wir wiederum Ausdrücke und Personen, welche zweifelsohne esthnisch sind, in finnische, ja in russisch-karelische Gesänge eingeflochten. Die Esthen singen mit Vorliebe vom Soome sild, „die Brücke der Finnen“, und meinen damit den Regenbogen, der sich über das Meer wölbt und gleichsam die beiden Ufer des finnischen Meerbusens sowie die so nah verwandten Bewohner derselben vereint. Hier ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Ausdruckes leicht verständlich. Aber in einem Gesange von der Nordküste des Ladoga oder vom Gouvernement Archangel würde er ein Nonsens sein, wenn anders er nicht ein Fremdling von fernher wäre. Ein gleicher Beweis ist das Auftreten des esthnischen Helden Sullerwoinen in einer Dichtung aus dem Gouvernement Olonetz.

Auf Grund der angeführten Dinge kann wohl eine unparteiische, von jedem Lokalpatriotismus freie Beurteilung zu keinem anderen Schlusssatz kommen, als dass die Quelle des finnischen epischen Gesanges entsprungen ist inmitten des in poetischer Hinsicht so verkannten westfinnischen Volkszweiges. Aber andererseits zeigt eine nähere Untersuchung der Entwickelung der Gesänge, dass diese zum grössten Teile in dem Gebiete des östlichen Zweiges vor sich gegangen ist, ja, dass die Zusammenschmelzung der einzelnen Gesänge zu grösseren Cyklen sowie schliesslich zu einem zusammenhängenden Epos erst dann vor sich gegangen ist, nachdem die epische Poesie sich nach Russisch-Karelien verbreitet hatte, wo sie eine ruhige Freistatt fand, auf der sie sich ungestört entwickeln konnte. Daher ist die Kalevala nicht ein Zankapfel zwischen den Westfinnen und den Kareliern, sondern ein Werk, an dessen Gestaltung das ganze finnische Volk sich rühmen kann, teilgenommen zu haben.

3. Wie ist das Kalevala-Epos entstanden?

Für den ersten Augenblick scheint diese Frage unmöglich zu beantworten zu sein, da, soviel wir wissen, die frühesten vollständig fragmentarischen Aufzeichnungen unserer epischen Gesänge nicht vor Ende des letzten Jahrhunderts geschehen sind. Wie sollen wir da Bescheid erhalten von den Veränderungen, welche die Dichtung in älteren Zeiten erfahren hat? Zum Glück haben wir für diese Untersuchung ein ungeheuer reiches Material zur Hand, welches unabhängig von der Zeit ist, wo die mündliche Tradition aufgezeichnet wurde. Von jedem epischen Gesange giebt es eine Menge Varianten, von einem Teile sogar 100—200, die in weit von einander entfernten Gegenden aufgezeichnet sind. Diesen Unterschied im Raume müssen wir nun gleichfalls als einen Unterschied in der Zeit betrachten; dazu giebt uns die nächst vorhergehende Untersuchung

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_128.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)