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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg 1932

auf kulturellem Gebiet zunächst sehr beschränkt. In den meisten Ländern führte sie in erster Linie den Kampf um die Entwicklung der Sozialgesetzgebung und stellte daneben die konkreten Forderungen nach obligatorischem Schulbesuch und besserer Berufsausbildung[1].

Der Weltkrieg hat auch hier umwälzend gewirkt. In den meisten europäischen Ländern wurde ab 1919, unter aktivster Mitwirkung des Internationalen Arbeitsamtes, der Achtstundentag gesetzlich eingeführt und in Tarifverträgen festgelegt. Daneben kamen in vielen Ländern eine Anzahl Verordnungen über Ladenschluß zustande, welche auch für die Angestellten im Einzelhandel eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit bedeuteten. Die Tatsache, daß einer großen Schicht hauptsächlich industrieller Arbeiter eine Anzahl von Freistunden zur Verfügung gestellt wurde, die nicht nur zur Reproduktion der Arbeitskraft dienten, hat eigentlich erst das Problem der Freizeitverwendung geschaffen.

Eine einfache Erklärung für das Zustandekommen des verkürzten Arbeitstages ist das Bedürfnis des Arbeiters nach einem größeren Quantum von Freizeit. Die Beantwortung der Frage: was hat die Arbeiterschaft dazu veranlaßt, diese Verkürzung zu beanspruchen, ist damit jedoch noch nicht gegeben. Der Hinweis auf das zunehmende Machtbewußtsein der Arbeiterklasse und die Steigerung ihres Persönlichkeitsgefühls reicht nicht aus. Das Hauptmotiv war wohl viel mehr das Bedürfnis nach einer Verminderung der Anzahl der Arbeitsstunden als gerade das Verlangen nach einer auf eine bestimmte Art und Weise zu verwendenden Freizeit. Man konnte hier von einem negativen Motiv reden. Es lassen sich noch zwei andere Motive denken, welche in der Psyche der Arbeiterschaft eine Rolle gespielt haben: 1. bei einer Gruppe das Verlangen nach einer größeren Freizeit infolge eines inneren Bedürfnisses, ohne zu wissen, was man damit anfangen solle, also ein unbestimmtes Verlangen; 2. bei einer anderen Gruppe, die wahrscheinlich äußerst klein gewesen ist, eine positive Vorstellung von der Verwendung ihrer Freizeit.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg 1932. C. L. Hirschfeld, Leipzig 1932, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_1.pdf/254&oldid=- (Version vom 14.1.2023)
  1. „Die Frage der Arbeiterbildung spielte unter den nationalen Erziehungsaufgaben nur eine geringe Rolle. Nur die Erziehung für die Wirtschaft, die berufliche Ausbildung der Arbeiter fand sorgfältigere Berücksichtigung. Daß es sich hier um eine eigene, weit umfassendere Aufgabe handelte, um die Erschließung der seelischen und geistigen Kräfte einer großen Volksschicht, um ihrer selbst wie um der Nation willen, zu deren lebenswichtigsten Organen sie gehört, wurde nur von wenigen empfunden." (Theodor Leipart und Lothar Erdmann: Arbeiterbildung und Volksbildung, Berlin 1928, S. 7.)