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mich anblickte. Ich war niemals der Liebling ihres Herzens, und ich glaube, diese wenige Achtsamkeit auf mich ist Schuld, daß ich meine ersten Jahre durchlebte, ohne mir meines Daseins bewußt zu sein. Sechs Frühlinge ungefähr mochte ich überlebt haben, als der Bruder meiner Großmutter unser Haus besuchte, um sich wegen des Verlustes seiner Gattin zu trösten. Er verlangte seine Schwester auf ein Jahr in seine Wirthschaft, und meine Mutter konnte ihm diese Bitte nicht abschlagen, so nöthig sie auch selbst die Gegenwart einer alten haushälterischen Frau hatte. Die Reise ward beschlossen. Mein Oheim fragte eines Tages nach den Maßregeln meiner Erziehung. „O!“ sagte meine Mutter, „das unartige Kind soll lernen, und es ist nichts in sie zu bringen!“ Mein Oheim bewies ihr die Unmöglichkeit in dem Geräusch des Wirthshauses. Er nahm mich mit; seine Wohnung war in Polen; er genoß in einem kleinen Hause der Ruhe des Alters und lebte von Dem, was er in jugendlichen Jahren als Amtmann erspart hatte. Die liebreichste Seele sprach in jedem Wort seines Unterrichts, und in weniger als einem Monat las ich ihm mit aller möglichen Fertigkeit die Sprüchwörter Salomonis vor. Ich fing an zu denken, was ich las, und von unbeschreiblicher Begierde angeflammt, lag ich unaufhörlich über dem Buche, aus welchem wir die Grundsätze unserer Religion erlernen. Mein ehrlicher Oheim freute sich heimlich, aber er riß mich oft vom Buche und wandelte mit mir durch ein kleines Gehölz oder durch eine blumige Wiese. Beides war sein Eigenthum, und beides gab ihm Gelegenheit, mit mir von den Schönheiten der Natur zu reden. Ich wiederholte ihm alles Gelesene und verlangte die Erklärung derjenigen Stellen, die über meine Begriffe waren. Er vergnügte sich, mein Ausleger zu sein, und ich belohnte ihm seine fromme Mühe mit tausend kleinen Schmeicheleien. Er hatte selbst keine Kinder, und sein Herz war mir um so mehr offen, je mehr es leer war, als er die Pflichten eines Unterweisers übernahm. Ich lag ihm an, mich schreiben zu lehren; meine Großmutter widersetzte sich und wandte alle ihre Beredtsamkeit an, um diesen Vorsatz zu zernichten. Es mislang ihr; ich suchte aus irgend einem Winkel ein Bret hervor und brachte es meinem gütigen Oheim. Er zeichnete mir Buchstaben darauf, ich malte sie nach, sehr bald ergriff ich die Feder, und als einstmals meine Ältern uns besuchten, hüpfte ich ihnen mit einem Papier in der Hand entgegen und rief voller Empfindung: „Vater, ich kann schreiben!“ Dieser gute Vater küßte mich, und ich sah ihn nicht mehr. Er starb wenige Monate nach diesem Besuche. Meine Mutter blieb nicht lange Witwe. Sie gab ihr Herz einem andern Manne und kam in seiner Gesellschaft, uns zu besuchen. „Herr Vetter“, sagte sie, „ich komme, meine Tochter abzuholen! Ich brauche sie künftig zur Wiege, und ich fürchte, sie wird verrückt im Kopfe werden, wenn sie fortfährt, Tag und Nacht über den Büchern zu liegen. Sie kann lesen und schreiben, dies ist Alles, was ein Mädchen wissen muß!“ – „Ja“, sagte mein Oheim, „es ist wahr; aber wollte sie nicht, daß ich sie so viel Latein lehrte, als ich selbst weiß? Sie bezeigt große Lust und weiß schon eine Menge Vocabeln auswendig!“ „Das kann sein“, sagte meine Mutter, „aber sie wird nicht studiren, und ich danke Ihnen für den guten Willen“. Alle Vorstellungen waren umsonst. Mein Oheim segnete mich, und ich reiste mit seiner Thräne auf meiner Wange fort. Meine Mutter gab ihrem zweiten Manne einen Sohn, und ich bekam das Amt einer Kindwärterin. Zehn Jahr war ich alt, mein Stiefbruder ward meine einzige

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Anna Louisa Karsch: Leben der A. L. Karschin, geb. Dürbach. F. A. Brockhaus, Leipzig 1831, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitgnossen_3_3_Karsch.djvu/013&oldid=- (Version vom 1.8.2018)