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No. 22.  [Zweiter Jahrgang.]  1899.

 Nachdruk verboten.


Zürcher Diskuszionen.


Viragines oder Hetären?


von Fanny Gräfin zu Reventlow (München)[1].


„Tout cela est fâcheux. Et, dussé-je passer pour être d’une moralité trop légère, j’en reviens volontiers à la ‚galanterie‘, c’est-à-dire à cette chose mal définissable, où entraient le désir, le goût vif, l’esprit, la volupté, une pointe de tendresse, et qui se défendait de la douleur, de la mélancolie et des crises du désespoir. La vie moderne est si dure, si âpre, les idées générales ont de si cruelles incertitudes que je me risque comme un remède à conseiller, à louer l’amour sans inquiétude, sans souci du lendemain, sans drame ni crise, rieur et tolérant tout au plus une larme furtive qu’on peut ne pas voir sans être cruel …“
COLOMBA, dans l’Echo de Paris.

Darüber, was Frauen ziemt, sind die Ansichten wol noch nie so weit auseinander gegangen wie in unseren Tagen, wo die Emanzipazjon und gleichzeitig die Modernität auf erotischem Gebiet immer weitere Kreise zieht und diesen beiden gegenüber hartnäkiger wie je das Filisterjum auf seinen Zopfanschauungen und Zopfgebräuchen behart, wie die bekante hipnotisierte Henne, die sich nicht traut, über den Kreidestrich hinauszugehen.

Und all’ diese verschiednen Anschauungen und ihre verschiedne Betätigung rufen allgemeine Streitstimmung hervor und verwirren manches harmlos neutrale Gemüt. Wer hat Recht und wer hat Unrecht? – Und was ist hier das Rechte und was das Unrechte? – so halt es hin und wider, denn wir ordnungsliebenden Europäer halten es nun einmal für notwendig, das bei jeder Gelegenheit festzustellen.

Natürlich ist keine der streitenden Parteien auch nur einen Augenblik darüber im Zweifel, daß ihre Ansicht die alleinseligmachende ist. Diese Ueberzeugung gehört ja überhaupt zum Begriffe einer „Partei“, wie die Schale zum Ei. Das Einzige, worauf es in Wirklichkeit im realen Leben ankomt, ist: ob man als Partei stark genug ist, um die anderen Parteien unterzukriegen und mundtot zu machen.

Im Großen und Ganzen ist das Filisterjum bis jetzt wol immer noch die stärkste geblieben und wird es wol auch immer bleiben, denn Ruhe, Ordnung und „erbärmliches


  1. Dieser und die folgenden Aufsäze waren bereits fertig gestelt, als in Folge von Umständen, die auserhalb der Machtbefugniße des Herausgebers lagen, eine Unterbrechung im Erscheinen der Zürcher Diskußjonen stattfinden muste.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(22)_001.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)