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Ich aber schritt rüstig vorwärts auf dem Weg meiner Polizeiverlaßenheit, glüklich, hier in dieser gesezlosen Gegend statt des hohlen, bleiernen Geschwäzes von Strafgesezbuch-Paragrafen, das glükliche Gepipse und Zwitschern von aufgeregten Amseln und vehementen Staaren zu vernehmen:

„Wißt Ihr, Ihr kleinen Vögelein,
vielleicht den Weg zum Schloß?
die Zinne glänzt im Abendschein,
hoch dehnt sich das Geschoß.
 *
„Frau Venus steht am Fenster dort
im güld’nen Rosenkleid,
die lacht Dich an und spricht kein Wort,
dann schwindet all’ Dein Leid.
 *
„Frau Venus hat ein Händchen klein
so sanft wie Milch und Blut .....“

schön! sagte ich mir, ich bin begierig, wie sie aussehen wird, diese Madame Venus, von der so viel gesprochen wird, die alle Maler malen, die alle Zeichner zeichnen, alle Dichter besingen, alle Schriftsteller beschreiben, und von der uns noch Kornmann im vorvorigen Jahrhundert eine so bewegliche Schilderung gegeben hat[1], diese merkwürdige Dame, die schon vor 2000 Jahren zu Kypris[WS 1] in blendender Schönheit aus dem blauen Meer emporzusteigen pflegte und die vorbeifahrenden Fönizjer an ihre Insel feßelte. Hoffentlich hat sie kleine Füße .....

Die Sonne war unversehens hochgekommen. In der Aufregung des Außerordentlichen, das mich erwartete, war ich schnell und heiß gegangen. Ich war mitten im Wald. Ein Haufen von summenden, lärmenden Stimmen umbrauste mich. Vor meinen Augen gaukelten goldgeschwänzte Fasanen, und jene Märchenstimmung, die uns bei solcher Gelegenheit erfaßt, halb Furcht, halb Grausen, ließ mich vielleicht Dinge sehen, die gar nicht da waren. – Es konte nicht mehr weit sein. Einen Wegweiser hatte ich nicht übersehen. In der Ferne zeigte sich mitten durch das Gebüsch hindurch ein lichter Punkt. Ich ging eilend darauf zu, um von hier aus eine Uebersicht zu gewinnen, und siehe: vor mir, auf prächtigem Wiesenplan, lag ein reizendes Schweizerhaus, in dem schweren Holzstil, wie sie hier allgemein bekant sind, mit schwer vorragendem Gebälk, das Dach mit großen Felsbroken zur Festigung gegen die Stürme beladen, die aufstrebenden Pfeiler, welche die HolzGallerie trugen, mit Epheu und blauem Clematis umwunden; in der Vorhalle, die hochgelegen, lauschig und kühl, standen gedekte Tischchen mit blumigen Tüchern, auf denen goldiger Honig erglänzte, einladend, speisebereit, und unter der Vorhalle, am Eingang, drei Stufen hoch, stand Frau Venus – oder war es die Göttin Freia? – in blendend-weißem Brust-Hemd, die Aermel bauschig gekröpft, knusprig gestärkt, die Brüste prachtvoll vorgeladen, Alles über und über mit hellen silbernen langen Ketten behängt, unter der Talje im gediegenen schwarzen Samtrok, die nicht ganz kleinen Füße in matten, schwarzen Lederschuhen, über denen die weißen Strümpfe blizend sichtbar wurden, die ganze Figur hoch, gewaltig, prachtvoll, sicher, imponirend .....




  1. Kornmann, Henricus, Mons Veneris, Fraw Veneris Berg, d. i. Wunderbare und eigentliche Beschreibung der alten Heydnischen und Newen Scribenten Meinung von der Göttin Venere, ihrem Ursprung, Verehrung und Königlicher Wohnung etc. Franckfurt 1614.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zypern. Kypris war gleichzeitig auch ein Beiname der Aphrodite, die der Sage nach an der Küste von Zypern dem Schaum des Meeres entstieg.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(18%E2%80%9319)_005.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)