Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/474

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

oft vergeben worden und er habe hernachmals doch immer wieder gezürnt und sich unversöhnlich bewiesen. Es ist eine bekannte Sache, daß einem Menschen hundertmal Vergebung gesprochen werden kann, ohne daß er sie einmal empfängt. Hören und empfangen ist sehr zweierlei, wie ihr das wohl alle an euch selbst wahrnehmen könnet; denn wie oft höret auch ihr die Vergebung und wie selten empfanget ihr sie. So oft sie gesprochen wird, geschieht es in der Absicht, daß sie empfangen werde; Gott reicht sie durch seine Knechte immer nur in dieser Absicht dar; aber wer ist Schuld daran, wenn sie über das Haupt hinfährt ohne Segen und ohne befriedigende und friedfertig machende Kraft? Wer sonst, als der Mensch, der eitle Hörer, der alle seine Dinge halben Geistes thut, halb beichtet und halb Buße thut und darum halb oder kaum das gewaltige Friedenswort der göttlichen Vergebung inne wird, es kaum merkt, wenn ihm zehntausend Pfund geschenkt werden? Man prüfe und erkenne nur recht seine Schuld, man thue nur wahre, tiefe Blicke in die große Verlorenheit der Seele, man werde nur durch Selbsterkenntnis erst recht hungrig und verlangend nach Vergebung, dann wird man auch empfänglich werden für die Vergebung der Sünden und sie mit ganzem Herzen vernehmen, dann wird man auch ihre Kraft erfahren. Du bist nicht recht hungrig nach Vergebung, darum entschlüpft sie dir alsbald wieder, wenn du sie zu haben meinst, entwindet sich deinem Gedächtnis, deinem Glauben und wirkt nichts. Hättest du je empfunden, wie die Sünde thut, so würdest du auch mit deinem Beleidiger, der an dir sündigt, Mitleid haben, würdest dich deiner eigenen Sünde erinnern und mild sein. Hättest du jemals deine Sünde empfunden und darauf, wie Gottes Vergebung thut, so würdest du auch wißen, was du deinem Gott für Seine Vergebung schuldig bist, so würdest du, Gott zu Dank, deinen Beleidigern gerne vergeben. Die Vergebung ist so süß dem gedemüthigten Geiste, daß er nicht anders kann, als wieder vergeben; wer sie hat, der gibt sie gerne, und wer ihrer voll ist, von dem träuft sie. Im Vergeben feiert der friedenvolle Jünger JEsu sein eigenes Glück, und ein „Verzeih mir, Bruder“ wird dem Menschen nicht schwer, zu erhören, der täglich zu Gott um Verzeihung betet und im Evangelium die fröhliche Antwort des HErrn empfängt. Ach daß man das recht bedächte! Die Gnade ist es, welche uns Vergebung reicht, unsre Erhöhung aus dem Staub der Sünde danken wir nur der Gnade: warum wollten wir also nicht auch, ich sage nicht gnädig, aber doch gütig sein und verzeihen? Warum nicht, wenn wir selbst nicht zürnen, aber andere mit uns zürnen wollen, so viel an uns liegt, Frieden bieten? Warum, da Gott nach der Vergebung so freundlich gegen uns ist, nicht auch freundlich und brüderlich mit Brüdern leben, wenn wir versöhnt sind? − Ach, es ist so oft Zorn und Hader um Nichts, oft aus Mistrauen und Misverstand, − wie oft sollte man sich der Ursache des Haders schämen und schon darum nicht spröde thun, wenn es Versöhnung gilt. − Noch einmal, Bruder! Erkenne deine Sünde, wäge und schätze sie, − und kannst dus nicht, so schau ans Kreuz, sieh JEsum an, sieh, wie deine Sünde Ihn niederdrückt, sieh an Ihm, wie tief deine Wagschale sinkt, wie groß und reich du an Schuld und Sünde und Gottes Zorn bist! Demüthige dich und nimm Vergebung deiner Schuld, auf daß du vergeben könnest.

.

 Ich will meinen Fuß weiter setzen, ich will noch einige Worte vom Segen der Versöhnlichkeit und vom Fluch der Unversöhnlichkeit sprechen und dann schließen. Aber ich vermag zuvor eine Bemerkung nicht zu unterdrücken, die ich oft gemacht habe. Unversöhnliche, zürnende Menschen behaupten so gerne, daß das Recht auf ihrer Seite stehe, daß sie nichts wollen als Recht, daß sie nicht grollen noch zürnen, sondern nur ihr gutes Recht vertheidigen und suchen. Und wie betrügen sie sich selbst! Sie behaupten nicht zu zürnen, und dennoch haben sie oft Tag und Nacht keine Ruhe, ein leidenschaftlicher Ausbruch folgt dem andern, kein Mensch sieht an ihnen, was sie sagen, jedermann sieht Unrecht, Ungerechtigkeit und Bosheit, während sie Recht und nur Recht haben wollen. − Ueberhaupt will der Mensch immer gerecht sein gegen andere, und gerade das ist für ihn zu schwer, gerade das kann er nicht. Noch am leichtesten könnte er Gerechtigkeit lernen, wenn er fürs erste Barmherzigkeit lernen würde; denn der Barmherzige hat in seiner Barmherzigkeit einen Schutz gegen die angeborene Ungerechtigkeit der Seele. Und barmherzig werden, das könnte er auf dem Wege der eigenen Erfahrung göttlicher Barmherzigkeit, auf dem Wege der göttlichen Heilsordnung. Das könnte er, − und siehe, das mag er nicht. Losgerißen von Gottes Heilsanstalt wird

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/474&oldid=- (Version vom 31.7.2016)