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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

in einem Verbote des Misbrauchs sahen, welcher mit dem Namen Jehovah gemacht werden konnte, so durften sie, um dies Gebot zu halten, nur den Namen aller Namen gar nicht gebrauchen, und die Sünde wider das zweite Gebot war nicht bloß ausgerottet, sondern fast unmöglich gemacht. Da sie alle Gebote auf eine so äußerliche Weise auslegten, so bekamen sie einen geringen Begriff von dem Wohlgefallen Gottes und der Gerechtigkeit. Sie machten das Maß klein, mit welchem Gott meßen sollte, und so hatten sies leicht demselben gerecht zu werden. Sie brachten es allenfalls zu einem Grade von äußerer Ehrbarkeit, bei welcher aber das Herz ungeändert und selbst in einem heftigen Gegensatze gegen alles Gute sein konnte. Ja je nachdem einer sich beherrschen und seinen äußeren Wandel selbstsüchtigen Zwecken zuliebe dem Gesetze unterthänig machen konnte, mochte auch jene ganze äußere Ehrbarkeit, welche den Pharisäern für Gerechtigkeit galt, ein pures Truggewebe und eitel Heuchelei werden. Im besten Falle war die pharisäische Gerechtigkeit ein armer Selbstbetrug, fern vom Ziele göttlichen Wohlgefallens, da sie eine bloße Decke über das verderbte, unreine Herz, nichts weniger als heilig und Gott gerecht war. Im andern Falle, wenn sie ein heuchlerisches Truggewebe war, unter welchem man unbemerkt bewußter Weise Böses that, war sie um nichts beßer, sondern viel schlimmer noch, als die eingebildete, blinde Selbstgefälligkeit und Gerechtigkeit des lasterhaften Gutgenug, der in allen seinen Freveln dennoch Gott zu gefallen wähnt.

 Ganz anders ist es mit der beßeren Gerechtigkeit, welche Christus lehrt. Gleichwie die pharisäische Gerechtigkeit auf einer bloß äußerlichen, buchstäblichen Schriftauslegung beruht; so ist die Gerechtigkeit, die Christus lehrt, die Frucht jener nicht minder wortgetreuen, aber die tiefste Bedeutung der Worte erfaßenden Schriftauslegung, die in Niemandes Macht so stand, wie in der Macht des Sohnes vom Vater, der mit dem Vater eins war und am besten sagen konnte, was dem Vater wohlgefiel. Gleichwie die pharisäische Schriftauslegung, weil sie nur eine äußerliche war, auch nur das Aeußere des Menschen zu regeln oder zu ändern vermochte; so vermochte im Gegentheil die Schriftauslegung Christi, weil sie des Wortes vollen, tiefen, reichen Sinn erfaßte, auch den ganzen Menschen, sein Inneres und Aeußeres, zu ergreifen, zu ändern, schriftmäßig und Gott wohlgefällig zu machen, wenn sie nemlich durch Kraft des heiligen Geistes und Glaubens in einer Seele Macht gewann. Von dieser Schriftauslegung Christi, so wie von der Gerechtigkeit, welche Christus lehrt, gibt uns die ganze Bergpredigt, gibt uns auch dasjenige Stück derselben, welches heute unsern Text ausmacht, Proben genug. Es ist eine vollkommene Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Christi, wer kann sie genug rühmen, wer hungert und dürstet nicht nach ihr? Sie schlägt im Innern den Thron auf und läutert den Abgrund des Herzens, darum bietet und vertreibt sie auch z. B. in unserm Evangelium allen Zorn. Sie bemächtigt sich aber auch von innen heraus des Aeußern, darum verbannt sie aus dem Munde das zürnende, scheltende, grimmige, verachtende Wort, − darum verwehrt sie der Hand, das Böse zu vollbringen. Sie macht einen Unterschied zwischen innerer und äußerer Sünde, setzt nicht alle Sünden einander gleich, weil sie alle gleichweit von Gott abstehen, sondern erkennt für größer die Sünde, welche den Menschen mehr und völliger beherrscht, für kleiner diejenige, welche erst begonnen hat, ihn zu faßen. Der Haß im Innern ist weniger verdammlich, als wenn er sich in Scheltworten ergießt; und wenn er sich in zürnendem Schelten ergießt, welches die Ehre abschneidet, ist es weniger verdammlich, als wenn er von solchen Worten übersprudelt, die dem Nächsten das Vorrecht aller Menschen, Verstand und Vernunft absprechen. So unterscheidet die Gerechtigkeit, die JEsus lehrt, zwischen Sünde und Sünde je nach dem Grade der Verschuldung, − ist eben damit sehr gerecht und doch dabei so gelind und milde, als es nur immer möglich ist. Dennoch ist sie strenger als alles pharisäische Urtheil; denn was der Pharisäer der äußern That als Strafe zutheilt, das erkennt sie schon den innern Anfängen der Sünde zu. Weil sie näher bei Gott ist, ist ihr Licht heller und weißer und die Sünde in ihrem Lichte dunkler und schwärzer, − und wie sie selbst vollkommener ist, so ist ihre Anforderung und ihr Urtheil heiliger, vollkommener und strenger.

 Mit alle dem haben wir nun allerdings auf die besonderen Beispiele von Gerechtigkeit, welche sich in unserm Texte finden, noch wenig Rücksicht genommen. Wir dürfen es aber wohl, auch wenn wir uns ganz nur mit Betrachtungen der Gerechtigkeit im Allgemeinen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 041. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/380&oldid=- (Version vom 5.7.2016)