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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Christi, in welchem der wahre Noah, der Fürst des Trostes und der Ruhe, mit den Seinen fuhr, mit denselben Augen anzuschauen. Die Christen der ersten Jahrhunderte haben ihm die schöne Deutung auch gegeben, haben das Schifflein gerne auf ihre Becher gemalt und eingegraben, haben es in die Lüfte und Wolken versetzt und gen Himmel fahren laßen, nicht zum Port der Gadarener. Hatten sie Unrecht? Waren nicht ER und die Seinen im Schifflein − und war also nicht im Schifflein Gottes Kirche? Ich spiele nicht, ich tändele nicht mit dem Schiff, in welchem Er gefahren ist, ich übe heilige Gedanken und lehre Wahrheit, wenn ich euch nun die Geschichte vom Schifflein Christi auf Seine Kirche deute.

 Das Schifflein auf dem See Genezareth ist ein Bild der Kirche, denn es trägt Christum und Seine Jünger. So ist auch die Kirche umgekehrt jenem Schifflein zu vergleichen, denn auch sie umfaßt Christum und Seine Jünger. Wo Christus und die Seinen sind, da ist die Gemeine der Heiligen, Seine Kirche. Christus ist immer bei den Seinen, denn Er hat gesagt: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Und die Seinen sind immer bei Ihm. Wie das Haupt vom Leibe, der Leib vom Haupte unzertrennlich ist, so sind auch Christus und Seine Gemeine unzertrennlich vereinigt. Er ist kenntlich, wo Er ist, und die Seinigen sind es auch. Er ist erkennbar an Seinen großen Thaten, den Sacramenten, und an Seinem heiligen Worte, − und die Seinen sind erkenntlich an ihrer Nachfolge, daß sie an Seinem Wort und Sacramente hangen und gerne thun nach Seinem Befehl und Vorbild. Wo der HErr ist, fehlts an Seinen Zeichen nicht; − und wo die Seinen sind, bekennen sie sich mit Wort und Wandel zu Ihm und zu Seiner Gnade und Wahrheit. Wem ER Sein Wort und Sacrament nicht reicht, wer Ihm nicht nachfolgt im Bekenntnis des Wortes und Wandels, der ist nicht im Schifflein Christi, das durch die Waßer dieses Lebens fährt.

 Das Schifflein Christi auf dem See Genezareth bleibt nicht lange ungestört auf seiner Fahrt. Auch wenn es sonst ruhig ist, fällt Sturm und Wirbelwind aufs Meer, so wie das Schifflein Christi geschwommen kommt. Christi Schifflein ist ein Fahrzeug im Sturm. Es stürmt umher um seinen Bord, und innerhalb desselben ist durch den Sturm von außen − Verwirrung, Angst und Noth. − So ist es mit der Kirche Christi. Zuweilen ist Ruhe und es scheint, als wäre Freude in der Welt, daß es eine Gemeinschaft der Heiligen gibt. Aber trau dem Meere nicht und nicht der Welt! Wie oft ist, wie vom heitern Himmel, ein Sturm gekommen! Wie oft sind Wellen der Noth über die heilige Kirche „hereingefallen“ und ringsum tobten die Völker und die Leute redeten so vergeblich, die Könige im Lande lehnten sich auf und die Herren rathschlagten mit einander wider den HErrn und Seinen Gesalbten! Dann hieß es: „Deine Fluthen rauschen daher, daß hier eine Tiefe und da eine Tiefe brausen; alle Deine Wellen und Waßerwogen gehen über mich.“ (Ps. 42.) „HErr, die Waßerströme erheben sich, die Waßerströme erheben ihr Brausen, die Waßerströme heben empor die Wellen, die Waßerwogen im Meer sind groß und brausen greulich!“ (Ps. 93.) Und wenn es von außen brauste und die Kirche in Druck und Unglück war; dann entschwand oft auch die Ruhe aus der Mitte ihrer Kinder! Sie fiengen an zu schwanken in Angst und Noth und aus äußeren Stürmen wurden innere. Dann jammerten die Kinder des Friedens in den Sturm hinaus: „Warum muß ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget? Es ist als ein Mord in meinen Beinen, daß mich meine Feinde schmähen, wenn sie täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?“ − Indes, so oft es auch also geworden ist, und so oft es auch noch so werden wird; wenn auch gleich das Meer wallet und brauset; die Jünger im Schifflein dürfen dennoch singen: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde Ihm noch danken, daß Er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist!“

 Warum sollen sie nicht also singen? Der HErr ist ja im Schifflein. Er schläft, und drum ist Seine Hilfe nicht zu schauen; aber Er schläft nur, und bald wird Er erwachen; Er schläft nur, und auch schlafend verbürgt Er den Seinigen ihre Sicherheit. Er würde nicht schlafen, wenn es wirklich Gefahr hätte; und sobald Gefahr werden wird, wird Er erwachen, denn Er vollführt das Amt Seiner Liebe auch im Schlafe und Sein Erbarmen sammt Seiner Hilfe schläft und schlummert nicht. Es kann brausen um das Schifflein, in dem Christus schläft; aber von Untergang ist nicht zu reden. Glückselig das Schifflein, in dem Christus schläft: seine Stürme sind nicht zum Tod und Untergang, sondern zur Ehre Gottes. Ob Er schlafe, ob

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 090. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/101&oldid=- (Version vom 28.8.2016)