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Zeugungskraft. Eines Tages barst er und gebar ein steinernes Ei. Es war rund wie eine Kugel. Aus diesem Ei ward durch Zauberkraft ein steinerner Affe ausgebrütet. Er neigte sich nach allen Seiten. Dann lernte er allmählich gehen und springen. Aus seinen Augen brachen zwei Strahlen goldenen Scheines hervor, die schossen hinauf bis zu dem höchsten Himmelsschloß, also daß der Herr des Himmels darob erschrak. Er sandte die beiden Götter Tausendmeilenauge und Feinohr aus, um zu sehen, was es gäbe. Die beiden Götter berichteten: „Die Strahlen kommen aus dem Auge des steinernen Affen, der von dem Zauberstein geboren ist; es ist kein Grund zur Unruhe vorhanden.“

Allmählich wuchs der Affe heran, lief und sprang umher, trank aus den Quellen der Täler und aß von den Blumen und Früchten, und die Zeit verstrich in ungebundenem Spiel.

Eines Tages im Sommer, als er mit den andern Affen der Insel Kühlung suchte, kamen sie in ein Tal zu baden. Sie erblickten einen Wasserfall, der von hohen Felsen herabstürzte. Die Affen sprachen untereinander: „Wer durch das Wasser hineindringen kann, ohne daß es ihm etwas schadet, der soll unser König sein.“ Der steinerne Affe machte einen Freudensprung und sprach: „Ich geh hinein.“ Dann schloß er die Augen, bückte sich und sprang in den brausenden Gischt. Als er die Augen wieder öffnete, da sah er eine eiserne Brücke, die durch den Wasserfall wie durch einen Vorhang von der Außenwelt abgeschlossen war. Die Brücke führte zu einem Höhlenschloß, das war wohnlich und rein. Am Eingang stand eine Steintafel; darauf war geschrieben: „Das ist der Höhlenhimmel hinter dem Wasservorhang auf dem seligen Berg der Blumen und Früchte.“ Hocherfreut sprang der steinerne Affe wieder durch das Wasser hinaus und erzählte den andern Affen, was er gefunden. Die hörten die Nachricht mit großer Freude und baten den steinernen Affen, sie mitzunehmen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_351.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)