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Zu jener Zeit lebte in Hangtschou bei der Friedensbrücke ein Gelehrter namens Mosü. Er war zwanzig Jahre alt und allgemein beliebt wegen seiner Schönheit und Begabung. Seine Eltern waren beide tot, und er war so arm, daß er kaum zu leben wußte. Haus und Hof waren längst verpfändet oder verkauft, und er wohnte in einem verlassenen Tempel, und mancher Tag verging, wo er hungrig zu Bett mußte.

Ein Nachbar hatte Mitleid mit ihm.

„Der Bettlerfürst hat ein Kind namens Goldtöchterchen,“ sagte er eines Tages zu Mosü, „sie ist über alle Maßen schön. Auch ist er reich und hat Geld und keinen Sohn, der ihn beerbt. Wenn du in seine Familie einheiraten willst, so ist sein ganzes Vermögen dein. Ist das nicht besser, denn als armer Gelehrter Hungers zu sterben?“

Mosü war eben in äußerster Not. Als er daher diese Worte hörte, ward er hoch erfreut. Inständig bat er den Nachbar, für ihn den Vermittler zu machen.

Der ging hin und redete mit dem alten Bettlerfürsten. Der Bettlerfürst besprach die Sache mit Goldtöchterchen, und da Mosü aus guter Familie war und außerdem begabt und gelehrt und nichts dagegen hatte, in die Familie einzuheiraten, so waren beide über die Aussicht sehr erfreut. Sie sagten zu, und die Verlobung ward geschlossen.

So trat Mosü in die Familie des Bettlers ein. Mosü freute sich der Schönheit seiner Frau, auch hatte er immer genug zu essen und gute Kleider anzuziehen. So fühlte er sich über Erwarten glücklich und lebte mit seiner Frau in Frieden und Freude.

Der Bettlerfürst und seine Tochter, denen die Niedrigkeit ihrer Familie schon lang ein Dorn im Auge war, ermahnten den Mosü, doch ja recht fleißig zu studieren. Sie hofften, er werde sich einen Namen machen und so auch ihrer Familie zum Glanz verhelfen. Alte und neue Bücher kauften sie ihm zu den höchsten Preisen. Sie versorgten ihn auch immer reichlich mit Geld, damit er vornehmen

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_290.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)