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Um die Mittagszeit wurde We Dschong plötzlich müde und schläfrig; aber er wagte nicht, sich zu verabschieden. Der Kaiser aber, weil einer seiner Bauern geschlagen worden war, blickte einen Augenblick nieder auf das Spiel und dachte nach, und schon schnarchte We Dschong mit donnerähnlichem Getöse. Der Kaiser erschrak sehr und rief ihm eilig zu; doch jener erwachte nicht. Er ließ ihn durch zwei Eunuchen rütteln; aber es dauerte eine lange Zeit, bis er wieder zu sich kam.

„Was seid Ihr nur so plötzlich eingeschlafen?“ sprach der Kaiser.

„Es träumte mir,“ antwortete jener, „der höchste Gott habe mir befohlen, den alten Drachen zu enthaupten. Eben habe ich ihm den Kopf heruntergeschlagen, und noch immer tut mir der Arm von der Anstrengung weh.“

Noch ehe er fertig gesprochen hatte, fiel plötzlich aus der Luft ein Drachenkopf herab, groß wie ein Scheffelmaß. Der Kaiser erschrak und stand auf.

„Ich habe mich am alten Drachen versündigt“, sagte er, zog sich zurück in die Gemächer seines Schlosses und ward verstört im Geiste. Er blieb auf seinem Lager liegen, schloß die Augen und redete nichts mehr. Ganz schwach nur ging der Atem noch durch seine Nase.

Plötzlich sah er zwei Leute in purpurnen Gewändern, die eine Namenkarte in der Hand hatten. Sie sprachen also zu ihm: „Der alte Drache der Milchstraße hat den Kaiser in der Unterwelt verklagt. Wir bitten, den Wagen anspannen zu lassen.“

Unwillkürlich folgte der Kaiser den beiden nach, und vor dem Schlosse war auch schon der Wagen angespannt. Der Kaiser bestieg ihn, und im Fluge ging es durch die Luft. Im Augenblicke war er in der Totenstadt. Als er eintrat, sah er den Gott des Großen Berges in der Mitte sitzen und die zehn Höllenfürsten rechts und links gereiht. Sie alle erhoben sich, verneigten sich vor ihm und ließen ihn sitzen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_284.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)