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der Unrecht hatte, sollte zur Strafe zum Schlammolch werden.

Am Tage darauf kam plötzlich ein Befehl des höchsten Herrn heraus, des Inhalts, daß der Drache der Milchstraße die Wind- und Wolkengeister anweisen solle, drei Zoll hoch Regen auf die Erde niederzusenden. Ein Widerspruch war nicht möglich.

Da dachte der alte Drache bei sich selbst: „Der Drachenkönig kennt die Zukunft doch besser als ich. Wenn ich nun aber ein Schlammolch werden sollte, wäre das gar zu schmählich.“ So ließ er denn nur zwei Zoll Regen fallen und berichtete dem himmlischen Hofe, daß der Befehl erfüllt sei.

Aber der Kaiser Tai Dsung hatte ebenfalls ein Gebet dargebracht, um dem Himmel zu danken. Darin hieß es: „Das köstliche Naß wurde uns zuteil in einer Höhe von zwei Zoll. Wir bitten untertänigst, noch mehr herabzusenden, damit die dürren Saaten sich erholen können.“

Als der Herr dieses Gebet las, ward er sehr zornig und sprach: „Der verbrecherische Drache der Milchstraße hat es gewagt, den von mir bestimmten Regen zu verringern. Er darf sein schuldiges Leben nicht fortsetzen. Darum soll unter den Menschen der Feldherr We Dschong ihn enthaupten zur Warnung für alle lebenden Wesen.“

Des Abends hatte der Kaiser Tai Dsung einen Traum. Er sah einen Riesen eintreten, der ihn mit verhaltenen Tränen anflehte: „Rettet mich, o Kaiser! Der Herr hat, weil ich eigenmächtig den Regen verringert habe, in seinem Groll befohlen, daß We Dschong mich morgen um die Mittagsstunde enthaupten soll. Wenn Ihr nun um diese Zeit den We Dschong nicht einschlafen laßt und abermals ein Gebet darbringt, um mich zu retten, so kann das Unglück noch einmal vorübergehen.“

Der Kaiser sagte zu. Jener verneigte sich und ging.

Am andern Tage ließ der Kaiser den We Dschong kommen. Er trank mit ihm zusammen Tee und spielte Schach.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_283.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)