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hohlen eisernen Ring, in dem eine Kugel rollte. Den schüttelte er und ging durch Dörfer und Städte. Wenn dann ein Kranker zu ihm kam, so heilte er ihn auf der Stelle, selbst wenn er viele Jahre krank gewesen. Er verstand zu stechen, zu brennen und zu schneiden, und auch die giftigsten Geschwüre wurden unter seinen Händen heil.

Einst kam er an dem Fuße des Südgebirges vorüber. Da trat ein grimmer Tiger ihm in den Weg. Er faßte den Zipfel seines Kleides mit den Zähnen, wedelte mit dem Schwanze und schien um etwas bitten zu wollen.

„Was fehlt dir denn?“ fragte der Arzt. „Zeig einmal her!“

Der Tiger öffnete den Rachen. Da stak ein Rinderknochen ihm im Gaumen. Der hatte ein böses Geschwür erzeugt, so daß er nicht mehr schlucken konnte. Der Arzt sperrte ihm mit seinem Eisenring den Rachen auf und schnitt mit scharfem Messer den Knochen heraus. Dann legte er ihm eine Kräutersalbe auf die Wunde, und gleich war alles gut. Der Tiger machte vor Freuden einen Luftsprung und lief weg.

Abermals begegnete er einem alten Manne, der an Leibschmerzen litt. Der Arzt gab ihm eine Pille, und die Krankheit wurde gut. Da verneigte sich der Alte dankend; dann verwandelte er sich in einen Drachen und verschwand in der Luft. – Seit jener Zeit folgte dem Arzt im Verborgenen stets ein Drache und ein Tiger nach.

Abermals wurde eine Prinzessin krank, und man bat den Arzt um Hilfe. Das Mädchen aber war so verschämt, daß sie ihm nicht die Hand reichen wollte, um den Puls sich fühlen zu lassen.

Da sprach der Arzt: „Die Kranke soll in jeder Hand drei Seidenfäden halten; daran kann ich schon erkennen, was ihr fehlt.“

Man tat, wie er gesagt, und hinter dem Vorhange kamen sechs Seidenfäden hervor. Der Arzt prüfte sie alle einzeln; dann sagte er: „Die Prinzessin leidet an Melancholie.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_278.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)