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Kehle hinabgleiten wie ein runder Klumpen, das in der Brust steckenblieb.

Da brach der Bettler in lautes Gelächter aus: „Wirklich, Schätzchen, du hast mich gern!“ Mit diesen Worten stand er auf, ging weg und bekümmerte sich nicht mehr um sie. Sie folgten ihm. Er ging in einen Tempel. Sie folgten ihm nach, auch dorthin, ihn zu suchen. Er war verschwunden. Man forschte vorn und hinten nach ihm. Keine Spur war vorhanden.

Beschämt und unwillig kehrte sie heim. Voll Trauer über den grausamen Tod ihres Gatten und voll Reue über die Schmach, der sie sich nutzlos unterzogen, brach sie in verzweifeltes Weinen aus, nur den Tod herbeisehnend.

Die Leiche des Mannes sollte gereinigt und zur Beerdigung vorbereitet werden. Die Leute im Haus standen abseits und sahen zu und wagten sich nicht heran. Die Frau aber umarmte die Leiche, ordnete die Eingeweide und weinte dabei. Sie weinte so heftig, daß ihr die Stimme im Halse steckenblieb und würgte. Plötzlich fühlte sie, wie der Klumpen in ihrer Brust nach oben stieg und herauskam, und ehe sie sich abwenden konnte, war er schon in die Brusthöhle des Toten gefallen. Entsetzt sah sie ihn an, da war es ein Menschenherz, das in der Brust hin und her zuckte. Der heiße Lebensatem strömte wie eine Rauchwolke hervor. Sie war aufs äußerste überrascht und schloß mit beiden Händen die Wunde der Brust. Mit aller Macht mußte sie drücken. Ließ sie auch nur ein wenig los, so kam die Luft zur Ritze strömend hervor. Da riß sie ihr seidenes Tuch auseinander und schlang es um ihn. Als sie dann mit der Hand den Leichnam befühlte, da erwärmte er allmählich. Sie deckte ihn mit einer Decke zu. Und als sie um Mitternacht wieder nach ihm sah, da war Atem in seiner Nase, und bei Tagesanbruch war er zum Leben zurückgekehrt. Nur sagte er, er habe ein verschwommenes Gefühl wie im Traum. Auch fühlte er einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend. Die Wunde hatte sich geschlossen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_246.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)