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Ein günstiger Wind füllte die Segel, und pfeilgeschwind fuhren sie dahin. Am dritten Tage kamen sie ans Land. Die Menschen aber, die ihnen begegneten, liefen alle entsetzt davon. Panther zog seinen Mantel aus und teilte ihn unter die drei, damit sie sich bekleiden konnten.

Als sie nach Hause kamen und die Alte ihren Mann wiedersah, da fiel sie mit vielen Scheltworten über ihn her, daß er ihr nichts davon gesagt habe, wie er heimgekehrt sei. Die Glieder der Familie, die nun herbeikamen, um die Frau des Hausherrn zu begrüßen, taten es alle unter Zittern und Beben. Panther aber empfahl seiner Mutter an, die Sprache des Mittelreichs zu lernen, sich in Seidenstoffe zu kleiden und an die menschliche Nahrung zu gewöhnen. Damit war sie sehr einverstanden; aber Mutter und Tochter ließen sich Männerkleidung machen. Bruder und Schwester wurden allmählich weißer im Gesicht und wurden den Menschen des Mittelreichs gleich. Den Bruder nannte man Leopard, die Schwester Ogerkind. Beide waren von großer Körperkraft.

Panther aber war es nicht recht, daß sein Bruder so ungebildet war; darum ließ er ihn studieren. Leopard war sehr begabt. Beim ersten Durchlesen verstand er den Sinn der Bücher, doch hatte er keine Neigung zum Gelehrtenberuf. Schießen und Reiten war ihm das Liebste. So brachte er es in der kriegerischen Laufbahn sehr weit und heiratete schließlich die Tochter eines sehr angesehenen Beamten.

Ogerkind aber fand lange keinen Mann, weil sich alle vor der Schwiegermutter fürchteten. Schließlich starb einem der Untergebenen ihres Bruders seine erste Frau. Der ließ sich dann bereit finden, Ogerkind zu heiraten. Sie konnte die stärksten Bogen spannen; hundert Schritt weit traf sie noch den kleinsten Vogel. Nie fiel ihr Pfeil zur Erde, ohne etwas getroffen zu haben. Wenn ihr Mann in die Schlacht zog, ging sie immer mit, und daß er es schließlich zum General brachte, war zum größten Teile ihr Verdienst.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_223.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)