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70. Bestrafte Habgier

Es lebte ein Mann südlich vom Yangtsekiang. Der hatte eine Stelle als Lehrer angetreten in Sütschoufu an der Grenze von Schantung. Als er dort ankam, war das Schulhaus noch nicht fertig. Man hatte in der Nachbarschaft ein zweistöckiges Haus entlehnt, in dem der Lehrer vorläufig wohnen und Schule halten sollte. Das Haus stand außerhalb des Dorfes, in der Nähe des Flußufers. Eine weite Ebene, mit wildem Gestrüpp bewachsen, dehnte sich nach allen Seiten aus. Dem Lehrer gefiel die Aussicht.

So stand er eines Abends da und sah, an die Tür gelehnt, dem Sonnenuntergang zu. Der Rauch, der aus den Hütten stieg, mischte sich allmählich mit den Schatten der Dämmerung. Alle Geräusche des Tags waren verstummt. Plötzlich sah er in der Ferne am Flußufer einen Feuerschein aufblitzen. Er eilte hin, um sich die Sache anzusehen. Er fand einen hölzernen Sarg, aus dem der Feuerschein hervorkam. Er dachte bei sich selbst: „Die Edelsteine, die man den Toten mitgibt, leuchten bei Nacht. Vielleicht sind Kleinodien darin.“ In seinem Herzen wachte die Gier auf, und er vergaß darüber, daß ein Sarg ein Ruhebett der Toten ist. Er hob einen großen Stein auf und schlug damit den Sargdeckel entzwei. Er bückte sich nieder, um genauer zuzusehen. Da erblickte er im Sarg einen Jüngling ausgestreckt liegen. Sein Gesicht war weiß wie Papier. Auf dem Kopf hatte er einen Trauerhut; hänfene Kleider umhüllten den Leib, und Strohsandalen trug er an den Füßen. Der Lehrer erschrak aufs äußerste und wandte sich, um wegzugehen. Aber schon hatte sich der Leichnam aufgerichtet. Da packte ihn die Angst, und er lief davon. Der Leichnam stieg aus dem Sarg und lief ihm nach. Zum Glück war das Haus

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_209.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)