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Darauf zog er Trauerkleider an, kniete vor dem Sarge nieder und betete zu dem Geiste des Verstorbenen: „Es war vom Schicksal mir versagt, deine Worte, o Meister, zu hören. Hundert Tage will ich an deinem Sarge trauern, um meine Verehrung zu bezeugen.“

Als er ausgebetet hatte, vergoß er Tränen und stand wieder auf. Darauf bat er, der Witwe vorgestellt zu werden. Die lehnte ab.

Jedoch der Prinz sprach: „Wenn Freunde beieinander wohnen, so erlauben sie einander, auch ihre Gattinnen zu sehen. Wieviel mehr gebührt sich das, da ich doch mit dem Meister verabredet hatte, sein Schüler zu werden.“

Da empfing ihn die Witwe.

Auf den ersten Blick erkannte sie, daß der Prinz ein feiner Herr war. So empfand sie denn Mitleid mit ihm.

„Ich möchte hier ein Zimmer entlehnen,“ sagte der Prinz, „um die Trauerzeit für meinen Lehrer zu verbringen. Außerdem bitte ich um die hinterlassenen Schriften des Meisters, damit ich mich aus ihnen belehren kann.“

Die Witwe war damit einverstanden und richtete das Gartenhaus für ihn als Wohnung ein. Auch holte sie die hinterlassenen Schriften ihres Mannes heraus und gab sie dem Prinzen. Der bedankte sich und machte sich an der Seite des Sarges einen Platz zurecht, wo er die Schriften las.

Die Witwe aber kam täglich, vor dem Sarge zu weinen. Und so gab sichs ganz von selber, daß sie mit dem Prinzen zuweilen ins Gespräch kam. Allmählich wurden sie vertrauter, und mancher zärtliche Blick verriet die Gefühle des Herzens. Endlich hielt es die Witwe nicht länger aus. Sie rief den alten Diener zu sich ins Zimmer, setzte ihm vom besten Weine vor und bat ihn, den Heiratsvermittler zu machen.

Der Alte kam mit der Nachricht zurück, daß sein Herr beglückt sei von der Aussicht auf diese Verbindung. Nur stehe ihr entgegen, daß der Verstorbene sein Lehrer gewesen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_097.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)