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schönes Mädchen oder ein Stück Gold und Seidenzeug. Alle Arten von Betörung werden angewandt, um so die Menschen in die Schluchten des Gebirges zu locken. Dann kommt der Tiger vor und frißt das Opfer. Der neue Geist muß dann Lockspitzel werden. Der alte ist dann seines Dienstes ledig und kann gehen. So geht’s in stetiger Reihe fort und fort.

Von Leuten, die von listigen und starken Menschen gezwungen werden, zum Schaden anderer sich herzugeben, sagt man darum wohl: „Sie sind des Tigers Lockspitzel.“


13. Der Fuchs und der Rabe

Der Fuchs versteht es zu schmeicheln und viele Listen zu gebrauchen. Einst sah er einen Raben, der mit einem Stück Fleisch im Schnabel auf einem Baum sich niederließ. Der Fuchs setzte sich unter den Baum, sah zu ihm empor und begann ihn zu loben.

„Eure Farbe“, begann er, „ist reines Schwarz; das zeigt mir, daß Ihr die Weisheit Laotses habt, der sein Dunkel zu wahren weiß. Die Art, wie Ihr Eure Mutter zu füttern wißt, zeigt, daß Ihr an kindlicher Liebe der Fürsorge Meister Dsongs für seine Eltern gleichkommt. Eure Stimme ist rauh und stark; das zeigt, daß Ihr den Mut besitzt, mit dem einst König Hiang durch seine bloße Stimme seine Feinde zum Fliehen brachte. Ihr seid wahrhaftig der König der Vögel.“

Der Rabe hörte es, ward hocherfreut und sprach: „Bitte sehr, bitte sehr!“

Aber ehe er sichs versah, fiel aus dem geöffneten Schnabel das Fleisch zur Erde.

Der Fuchs fing es auf, fraß es und sagte dann lachend: „Merkts Euch, mein Herr: Wenn jemand ohne Ursach Euch Lob entgegenbringt, so hat er sicher eine Absicht.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_027.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)