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noch der Wortschatz des großen Gesetzes ist bearbeitet und, wie sich gebührt, mit den älteren kretischen Gesetzen und dem späteren, nicht nur Kretischen verglichen. Historisch ist es doch von großer Wichtigkeit, daß auf Kreta so etwas geleistet ist in einer Zeit, wo die Insel sonst uns ganz unbekannt ist, und daß wir später, als wir aus und über Kreta etwas erfahren, von der geistigen Kultur nichts mehr übrig ist, die aus seinen alten Gesetzen unverkennbar spricht. Wenn es sich bewahrheitet, daß kretische Plastik der sogenannten Dädaliden auf den Peloponnes stark eingewirkt hat, so ist das eine parallele Erscheinung, auch darin, daß es später eine besondere kretische Bildkunst nicht mehr gibt.

Hier sind reizvolle Aufgaben gestellt, die uns die griechische Sprache noch im Flusse des Werdens zeigen, Ansätze, die nicht zur vollen Ausbildung kommen, aber das, was sie daran hindert, erst recht würdigen lassen. Nicht minder dringend ist, daß die erste prosaische Literatursprache endlich erforscht wird, das echte Ionisch. Da müssen wir freilich daran verzweifeln, ihr Werden zu erkennen. Es kann nicht anders zugegangen sein, als daß zuerst auch in den verschiedenen ionischen Städten die διάλεκτος, die Sprache des Lebens, geschrieben ward, und dann die Übermacht eines Ortes oder die überragende Gewalt eines Schriftstellers die Mundart eines Ortes zur Herrschaft brachte. Das ist so früh geschehen und wir haben bisher so wenige altionische Steine, daß jede Vermutung ein bloßes Raten bleibt[1]. Aber sehr früh ist es geschehen, denn die Orthographie hält einen Zustand der Sprache fest, den das Leben schon im sechsten Jahrhundert überwunden hatte. Von den ganz archaistischen Schreibungen ποιέει u. dgl. in unseren


  1. An Milet denkt man wegen der großen Schriftsteller, die doch erst um 550 zu schreiben beginnen. Das zwingt nicht. Man sprach dort γλάσσα, nicht γλῶσσα, πεμπάς, ἱέρεως.