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Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92

reinen Lichte des Vollmondes mit schwer belastetem Gewissen einherzuwandeln. Wann dieser strafende Pfeil einen für das Strafgericht der Götter Gezeichneten erreichen wird, ich weiß es nicht. Sicherlich aber geschieht es nur, wenn das leuchtende Gestirn der Nacht uns sein volles Antlitz zeigt. Darum, wer sich schuldig fühlt, der mache gut, was er begangen. Noch ist es Zeit! Zum Mond hinauf steigt mein Geschoß, und der Mond versendet es wieder. Eine reine Seele schützt allein vor ihm … Haltet eure Seelen rein!“

„Unsinniges Gewäsche“, meinte Carlo, ironisch die Achseln zuckend, als Sarka-Mana jetzt schwieg. Mir aber waren plötzlich die geheimnisvollen Worte eingefallen, die der alte Indier zweimal zu mir gesprochen hatte – auf dem engen Elefantenpfade im Dschungel und dann vor der Tür unseres Häuschens. Und beim letzten Male hatte er, wie ich mich nur zu gut besann, wörtlich gesagt: „In der ersten Vollmondnacht kehrt Lundja-Mana für immer zu uns zurück.“ Und jetzt spielte der Vollmond in seiner rätselhaften Ansprache ebenfalls eine so wichtige Rolle!

Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich da plötzlich, etwas wie aufsteigende Angst, die mein Herz unruhig klopfen ließ. Und doch konnte ich mir keine Rechenschaft darüber geben, welchen Einflüssen diese Furchtempfindung zuzuschreiben war.

Indessen hatte der Fakir dem Rajah[1] den Pfeil mit der Bitte überreicht, auf eins der weißen an dem Schaft befestigten Bänder einige Zeichen zu machen. Als zweiter schrieb dann der Vizekönig mit einem Bleistift einige Worte auf eins der schmalen Zeugstreifen. Jetzt kam Sarka-Mana mit dem auf diese Weise gekennzeichneten Geschoß zu uns herüber und hielt es meinem Freunde hin. Dabei bückte er sich tief zu dessen Ohr hinab und flüsterte ganz leise, so daß nur ich, der neben Carlo saß, ihn gleichzeitig verstehen konnte:

„Sahib, wenn Lundja-Mana nicht bis Mitternacht bei uns ist, dann habt Ihr die Strafe der Götter zu fürchten.“

Carlo lachte dazu nur höhnisch auf und antwortete mit einem englischen Schimpfwort, das man am besten mit „Alter Halunke“ übersetzt. Dann zog er einen Bleistift hervor, breitete eins der Bänder des Pfeiles über das Knie und schrieb trotzig mit großen Buchstaben darauf „Lundja-Mana“.

Schweigend ging der Fakir in die Mitte des Kreises zurück, legte den Pfeil auf die Bogensehne und schoß ihn senkrecht in die klare, sonnendurchstrahlte Luft hinaus. Und der Pfeil stieg höher und höher, während seine weißen Bänder hin- und herflatterten, wurde immer kleiner, bis er schließlich im Äther verschwand … Aber vergebens warteten wir darauf, daß das Geschoß, dem Gesetze der Schwere folgend, wieder zur Erde herabsinken würde. So viele Augen auch nach ihm ausspähten, niemand erblickte es, wenigstens vorläufig nicht!

Unwillkürlich schaute ich in diesem Moment zu dem Rajah hinüber. Und da bemerkte ich deutlich in dem bronzefarbenen Gesicht des jungen Fürsten ein eigentümliches Lächeln, das fraglos meinem Freund allein galt, dessen Mienen jetzt nichts mehr von jener spöttischen Überlegenheit verrieten, mit der er vorher die indischen Fakire auf eine Stufe mit den europäischen Zauberkünstlern gestellt hatte. Im Gegenteil – Carlos Antlitz war mit einem Male aschfahl geworden, und als ich die Richtung seiner Blicke verfolgte, merkte ich, daß sich die seinen mit denen Dama-Schenks wie Degenklingen in tödlichem Hasse kreuzten.

Da rief auch schon der Rajah zu uns herüber:

„Nun, Master Kieselowsky, was sagen Sie jetzt?“

Carlo faßte sich schnell. Zu meinem großen Befremden antwortete er offenbar gegen seine bessere Überzeugung:

„Ich bewundere ehrlich den hohen Grad von Vollkommenheit der Taschenspielerkunststücke Sarka-Manas, Hoheit. Etwas Außergewöhnliches kann ich aber auch jetzt nicht dabei finden.“

Der Fürst schüttelte leicht, wie ungeduldig, den Kopf.

„Ich stelle Ihnen gern meine gesamte Dienerschaft zur Verfügung. Lassen Sie die Umgebung aufs sorgfältigste nach dem Pfeil absuchen, niemand wird ihn entdecken, niemand! – Ich sehe dieses Experiment nicht zum erstenmal von dem Fakir, weiß auch, wie es gewöhnlich endet“, fügte er plötzlich sehr ernst hinzu.

„Hoheit würden mich sehr zu Dank verpflichten, wenn ich über diesen Ausgang des angeblichen Strafgerichts Näheres erfahren könnte“, meinte Carlo jetzt mit wirklichem Interesse.

Doch Rajah Sadani ließ sich zu weiteren Erklärungen nicht herbei: „Sie würden meinen Worten ja doch nicht glauben, wo nicht einmal der Augenschein Sie von den unerklärlichen Fähigkeiten Sarka-Manas hat überzeugen können“, meinte er bestimmt und gab dann dem Fakir ein Zeichen, mit seinen Vorführungen fortzufahren.

Dama-Schenk entleerte nun den großen mit einem Deckel versehenen Weidenkorb, in dem die verschiedenartigen Requisiten des Fakirs lagen, seines Inhaltes, zeigte, daß der Korb tatsächlich auch nicht die geringste Kleinigkeit mehr enthielt und breitete dann wieder den flachen Deckel darüber.

So blieb der Korb eine ganze Weile auf dem dicken Teppich unberührt stehen, während Sarka-Mana und Dama-Schenk einige Meter davon bewegungslos wie Statuen in aufrechter Haltung verharrten. Dann flog plötzlich der Deckel zur Seite, und in dem nunmehr offenen Korbe richtete sich langsam eine weibliche, mit bunten Seidengewändern bekleidete, schlanke Gestalt auf – eine Gestalt, die vollkommen Lundja-Mana, der Enkelin des alten Fakirs, glich. Ich erkannte sie sofort wieder. Eine Täuschung war hier gänzlich ausgeschlossen. Und niemals werde ich das todestraurige Lächeln vergessen, mit dem die schöne Indierin jetzt meinen Freund anschaute.

Carlo saß, schwer atmend, fast keuchend, neben mir, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, und seine stieren Blicke verfolgten jede Bewegung der – sagen wir – der Erscheinung, während sein Gesicht sich nun langsam mit einer grünlichen Blässe überzog. – Die Szene in der Mitte des Zuschauerkreises hatte sich inzwischen völlig verändert. Sarka-Mana stand in einer Entfernung von vielleicht sieben Schritt vor Dama-Schenk, der einen mittelgroßen Kürbis in der ausgestreckten Rechten hielt. In des Fakirs Hand aber blinkten zwei lange, spitze Messer, von denen er das eine jetzt prüfend wog und es dann blitzschnell nach dem Kürbis hinschleuderte. Und bis zum Heft fuhr es in die gelbe Frucht hinein.

Hierauf kam das Entsetzliche, das meine gewiß nicht verweichlichten Nerven bis zum Reißen spannte und meine Seele mit Schauern des Grauens erfüllte.

Blitzschnell hatte der alte Indier das zweite Messer dem ersten folgen lassen, aber sich dabei ein anderes Ziel erwählt – Lundja-Manas Herz, in dem die blitzende Stahlklinge vollständig verschwunden war. Und allmählich sank nun die Gestalt des braunen Mädchens zusammen, verschwand langsam wieder im Innern des aus Weiden geflochtenen Behälters. Die dunklen Augen aber ruhten, bis der Rand des Korbes sie verdeckte, noch immer mit dem gleichen, unendlich wehmütigen Ausdruck auf meinem Freunde, der zitternd wie Espenlaub, einer Ohnmacht nahe, in seinem Stuhle lehnte. Minuten vergingen. Die beiden Indier standen jetzt wieder wie die Bildsäulen mit über der Brust gekreuzten Armen da. Es war, als ob sie durch ihre völlige Bewegungslosigkeit den erschütternden Eindruck dieses furchtbaren Schauspiels noch erhöhen wollten. Und auch all die, die Zeugen dieses für das menschliche Begriffsvermögen gänzlich unerklärlichen Vorganges gewesen waren, befanden sich in einer Art schwerer Erstarrung, blieben regungslos, stumm, richteten ihre Blicke wie gebannt auf den Weidenkorb, als müßte aus dem hellen Geflecht jeden Moment das rote Blut der Indierin hervorsickern.

Plötzlich wurde jedoch die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf etwas anderes übergelenkt. Mein Freund hatte sich, noch bevor ich ihn daran zu hindern vermochte, erhoben und war taumelnd wie ein Trunkener, vorwärts geschritten. Vor dem Korbe machte er halt, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte vornüber zu Boden, wobei er den Korb im Fallen mit umriß. Und jetzt sah man – woran ich niemals gezweifelt hatte –, daß dieser wie vorher vollständig leer war.

* * *

Eben hatte die Weckeruhr elf geschlagen. In unserem kleinen Häuschen saß neben dem Lager Carlos, das wir aus Decken auf dem Fußboden zurecht gemacht hatten, Dr. Schusterius, der Leibarzt des Fürsten, und prüfte eben den Pulsschlag des Kranken, der jetzt in vollkommener Apathie dalag, nachdem es uns erst nach stundenlangen Bemühungen gelungen war, ihn aus der tiefen Ohnmacht zu wecken. Ich selbst hatte meinen Platz an dem Mitteltische gewählt und schrieb beim Scheine der halbverhüllten Lampe einen ausführlichen Bericht an den Filialleiter unserer Firma nach Kalkutta, der mir umgehend einen anderen Ingenieur für meinen sicher für längere Zeit arbeitsunfähigen Freund herausschicken sollte.

Dr. Schusterius, ein geborener Rheinländer, der nach mannigfachen Schicksalen diese glänzende Stellung bei dem Rajah gefunden hatte, verließ jetzt leise seinen Platz und winkte mir dabei verstohlen zu, ihn mit hinauszubegleiten.

„Mit Ihrem Kollegen steht’s schlecht,“ sagte er draußen zu mir, „das Herz setzt alle Augenblicke aus, und diese plötzlich eingetretene Herzschwäche ist mehr als bedenklich.“

Ich hatte mich bisher gescheut, dem Landsmann etwas von dem traurigen Herzensroman Carlos mitzuteilen und ihn bei dem Glauben gelassen, daß mein Freund lediglich infolge der heutigen aufregenden Vorstellung des Fakirs von diesem schweren Nervenanfall heimgesucht worden sei. Jetzt hielt ich es aber doch für geraten, dem Arzte die volle Wahrheit einzugestehen. Aufmerksam hörte Dr. Schusterius mir zu.

„Also so liegt die Sache!“ meinte er dann sehr ernst. „Nun begreife ich ja erst, wie Ihren Kollegen dieses letzte Experiment so


  1. Vorlage: Radjah
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Wie Carlo starb. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zur Greifswalder Zeitung, Nr. 11–12, S. 81–84 u. 89–92. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Greifswald 1912, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_Carlo_starb.pdf/6&oldid=- (Version vom 1.8.2018)