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Franz Werfel: Wir sind. Neue Gedichte.

der gnadenlose Philosoph die Dichter aus dem Reiche vertreibt.

Der Dichter weiß, daß er in seinen uferlosen Erhebungen dem Leben am nächsten ist, er hat kein Mißtrauen gegen sie, er weiß mehr, als der Systematiker von der Eitelkeit allen Erkennens und erreicht bald die verzückteste Weisheit, daß „nichts verstehn“, reif sein heißt. Er müßte sich selbst leugnen, wenn er nicht etwa dem alltäglichen Herrn mißtraute, den er im Leben bedeutet, sondern dem Engel seiner gnadenreichen Stunden. Er weiß aber sehr gut, daß die Brandung dieser Stunden allein das Notwendige seines Lebens an den Strand wirft, das, wenn es auch erst in alle Bäder der Eitelkeit und Gemeinheit getaucht wird, um Gedicht zu werden, dennoch gottgewollt ist.

Auch bedrückt die Frage sehr: Kann ein Werk zu Ende sein? Die Vollkommenheit ist natürlich das, was aller Form und allem sich verändernden Leben widerspricht.

Maß einer Menschlichkeit und Kunst ist gewiß der Jammer und die Unzufriedenheit, mit der der Schaffende dem Urbild nahezukommen strebt. Aber dieses liegt im Unendlichen und so sind auch Faust und die Brüder Karamassow nicht fertig.

Die Vollendung einer Arbeit ist immer Lüge, Erlahmen der Ehrlichkeit, Selbstbetrug und Einschlummern.

Wer ist aber nicht jung und tut das Eine vom Herzen, um das Andere zu nennen, in der angstvollen Lebenszeit. –

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Franz Werfel: Wir sind. Neue Gedichte.. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Werfel_Wir_sind_1913.pdf/124&oldid=- (Version vom 1.8.2018)