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zu tun. Sie setzte aber ihr Rufen fort, ihre Stimme wurde immer lauter, und schließlich versuchte das Weib es, diejenigen, welche sich in seiner Nähe befanden, geradezu hinauszudrängen.

Kantor Märkel hielt in seiner Vorlesung inne. Eine tiefe Stille trat ein, die freilich nur wenige Augenblicke währte. Denn alsbald vernahm man das Brausen und Rauschen der mächtigen Gewässer. Leichenblässe bedeckte die Gesichter. Jeder ahnte die große Gefahr. Die Andacht war vorüber. Alles stürzte zur Tür hinaus, um schnell heimzukommen. Doch welch ein Bild der Verwüstung sah man vor sich! Zwischen der Kirche und dem jenseitigen Berge tobte eine furchtbare Wasserflut. Niemand wußte, wo aus, wo ein. Zum Städtchen hinunterzukommen, das war nicht mehr möglich; unten wogte ein brausender See.

In der Nähe der Dörfer Uttewalde und Lohmen war ein verheerender Wolkenbruch niedergegangen, ein Wolkenbruch, wie man ihn seit Menschengedenken in dieser Gegend nicht erlebt hatte. Das Wasser bahnte sich in gewaltigen Wogen nach dem Uttewalder Grunde zu einen Weg. Bäume wurden entwurzelt, Felsblöcke unterwaschen und von der Flut mit fortgerissen. In rasender Eile schossen die Wassermassen nach dem Städtchen Wehlen herein, Schutt, Schlamm, entwurzelte Bäume, losgerissene Felsen und große Quadersandsteine mit sich führend. Selbst Trümmer von Gebäuden brachte die Flut mit sich; denn nicht wenige Häuser waren von Grund aus weggewaschen worden. Tief in den Elbstrom hinein bildete sich von allen diesen Gegenständen ein förmlicher Damm. – Das Elend war groß. Männer, Frauen und Kinder standen händeringend vor den Trümmern ihrer ehemaligen Wohnungen. Hunderte von arbeitsamen Bürgern waren in wenigen Minuten obdachlos und bettelarm geworden. Auch Menschenleben waren leider zu beklagen.

In den umliegenden Ortschaften, wie in Lohmen, Krippen und Rathen, hatte das Unwetter ebenfalls nicht geringen Schaden verursacht; doch das Städtchen Wehlen war wohl am schwersten und härtesten heimgesucht worden. Es hat Jahre gedauert, ehe die demselben geschlagenen Wunden verheilt waren, obgleich mildtätige Menschen es nicht an Hilfe und reichlicher Unterstützung fehlen ließen.

Heute sieht man freilich von dem damals angerichteten Schaden in Wehlen nichts mehr. Freundlich blicken die weinumrankten Häuser und Villen den Wanderer an und laden ihn zur Rast ein. Die Zeit hat alles wieder ausgeglichen. Heute hält man es kaum für möglich, daß so etwas hier hat vorkommen können; die Alten jedoch, die Augenzeugen gewesen waren, berichteten noch mit Grausen von dem Schreckenstage der Stadt Wehlen!

Der brave Kantor Märkel ist seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr unter den Lebenden. Er starb im Jahre 1860. Auf dem Kirchhofe zu Wehlen findet man sein Grab. Er war ein allgemein beliebter Mann und lebt noch heute in den Herzen der guten Wehlener fort, die einst seine Schüler waren. Märkel war auch eine wissenschaftlich berühmte Persönlichkeit. Er zeichnete sich nicht nur als tüchtiger Musiker aus, sondern er war auch ein großer Naturfreund und Naturforscher. Märkel besaß als bedeutender Käferkenner einen weithin klingenden Ruf. Im Wehlener Grunde, dem unteren Teil des Uttewalder Grundes, ist ihm ein Denkmal errichtet worden. An einer Felsenwand, auf einer daselbst angebrachten Gedenktafel, ist folgende Inschrift zu lesen:

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Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_321.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)