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gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit „Transkiptionen“ erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder[WS 1] sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.

Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluß getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Einfall oder vom Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder zum Priester. Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daß eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht.

Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, und auch dieser kann - er mag noch so frei sich gebärden - niemals das Original aus der Welt schaffen.

Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz unversehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit und sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit geben kann.

Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier - und sind's in gewisser Weise auch.

Merkwürdigerweise steht bei den „Buchstabengetreuen“ die Variationenform in großem Ansehen. Das ist seltsam, weil die
== Anmerkungen (Wikisource) ==

  1. in der Vorlage fälschlich: Fehler
Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/016&oldid=- (Version vom 1.8.2018)