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Die verlorene Kirche.

Man höret oft im fernen Wald
Von obenher ein dumpfes Läuten,
Doch Niemand weiß, von wann es hallt,
Und kaum die Sage kann es deuten.

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Von der verlornen Kirche soll

Der Klang ertönen mit den Winden;
Einst war der Pfad von Wallern voll,
Nun weiß ihn Keiner mehr zu finden.

Jüngst ging ich in dem Walde weit,

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Wo kein betretner Steig sich dehnet,

Aus der Verderbniß dieser Zeit
Hatt’ ich zu Gott mich hingesehnet.
Wo in der Wildniß Alles schwieg,
Vernahm ich das Geläute wieder,

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Je höher meine Sehnsucht stieg,

Je näher, voller klang es nieder.

Mein Geist war so in sich gekehrt,
Mein Sinn vom Klange hingenommen,
Daß mir es immer unerklärt,

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Wie ich so hoch hinauf gekommen.

Mir schien es mehr denn hundert Jahr’,
Daß ich so hingeträumet hätte:
Als über Nebeln, sonneklar,
Sich öffnet’ eine freie Stätte.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Uhland: Gedichte von Ludwig Uhland (1815). J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1815, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:UhlandGedichte1815_0338.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)