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Romanze vom kleinen Däumling.


Kleiner Däumling! kleiner Däumling!
Allwärts ist dein Ruhm posaunet.
Schon die Kindlein in der Wiege
Sieht man der Geschichte staunen.

5
Welches Auge muß nicht weinen,

Wie du liefst durch Waldes Grausen,
Als die Wölfe hungrig heulten
Und die Nachtorkane sausten!

Welches Herz muß nicht erzittern,

10
Wie du lagst im Riesenhause

Und den Oger hörtest nahen,
Der nach deinem Fleisch geschnaubet!

Dich und deine sechs Gebrüder
Hast vom Tode du erkaufet,

15
Listiglich die sieben Kappen

Mit den sieben Kronen tauschend.

Als der Riese lag am Felsen,
Schnarchend, daß die Wälder rauschten,
Hast du keck die Meilenstiefel

20
Von den Füßen ihm gemauset.


Einem vielbedrängten König
Bist als Bote du gelaufen;
Köstlich war dein Botenbrot:
Eine Braut vom Königshause.

25
Kleiner Däumling! kleiner Däumling!

Mächtig ist dein Ruhm erbrauset,
Mit den Siebenmeilenstiefeln
Schritt er schon durch manch Jahrtausend.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Uhland: Gedichte von Ludwig Uhland (1815). J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1815, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:UhlandGedichte1815_0235.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)