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Requiem

Am 24. Mai ist er sanft entschlafen, und am 27. Mai haben wir ihn begraben. Es war eine erhebende Feier.

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Es war so überraschend schnell gegangen. Am Mittwoch hatte er noch Spengler gelesen und andern Unfug getrieben, als um dreiviertel sieben Uhr abends zwei Freikarten für eine neue Operette einliefen. War es nun die Gelehrsamkeit des 18 prozentigen Industrie-Philosophen oder der Schreck – kurz: Wrobel bekam Atembeschwerden, und, seiner Sinne nicht mehr mächtig, ließ er den Halsspezialisten Dr. Puppe rufen. Bevor der noch in der Eile den letzten Teuerungsindex errechnen konnte, glitt der Patient dahin, und alles war aus. Der schwer erschütterte Mediziner saß im Vorzimmer des Toten – es war die erste Nasenscheidewand in seinem Leben, die unoperiert davongekommen war –, und als ihm nun eröffnet wurde, daß er als Vermächtnis alle Jahrgänge der „Weltbühne“ geerbt hatte, da weinte der große und starke Mann bitterlich.

Wir andern aber formierten den Trauerzug und setzten uns langsam in Bewegung. Vorn rollte der Dichter selbst – zum Glück war der Sarg geschlossen, denn der Anblick des im Wagen fahrenden Wrobel hatte stets den Neid und den Abscheu aller Vorübergehenden erregt. Immer hatte er in den großstädtischen Automobilen nach der Melodie gesessen: „Wie gut, daß ihr lauft!“ Das konnte er dieses Mal nicht

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Kurt Tucholsky: Mit 5 PS. Ernst Rowohlt, Berlin 1928, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_279.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)