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Man sollte meinen, Goethe habe das Büchlein vor sich gehabt, als er es beschrieb. Aber es war ihm wohl seit dreißig Jahren aus den Augen gekommen. Louise von Göchhausen ist 1807 gestorben, mehrere Jahre, ehe Goethe mit seiner Biographie begann, und sie hat doch das Büchlein, das sie zurückzugeben vergessen hat, höchst wahrscheinlich schon erhalten in den fröhlichen Tagen des Weimar-Tiefurter Verkehrs, als sie der Secretär des Journals von Tiefurt war, Goethe ihr manchmal in die Feder dictirte und manches seiner Gedichte ihr in dem kleinen Kreise der Auserwählten zuerst zu Gesicht kam. Weshalb ist es dem Dichter nicht eingefallen, das Büchlein zurückzuverlangen? Auf diese Frage wüßte ich, will man nicht den Zufall als Grund gelten lassen, nur die Antwort, daß die Auslese des weiland Besten ihm damals ganz werthlos erschienen sein muß.

In der That, wer „Füllest wieder Busch und Thal“ gedichtet hatte, aber so auch schon der Dichter des „Wanderers“ und der Lieder an Lili, mußte Allem, was das seltsame Büchlein enthält, fremd gegenüber stehen. Jener Goethe ist darin kaum mit einer leichten Spur angedeutet. Und Niemand, dem die Seele voll ist von der „Frühlingslebenspracht“ der letzten Frankfurter, der ersten Weimarer Jahre, „da sich ein Quell gedrängter Lieder ununterbrochen neu gebar“, Niemand würde - die äußeren Zeugnisse hinweggedacht - auf den Gedanken kommen, das kleine Buch mit dem französirten Mädchennamen enthalte Dichtungen Goethe’s.

Ich muß dies rückhaltslos aussprechen, um einer Enttäuschung zuvorzukommen. Man darf auch bei einem Goethe nicht vergessen, daß kein Meister vom Himmel gefallen ist. Wenn, wie ja Goethe selbst uns sagt, auch der vorzügliche Mensch vom Tage lebt, d. h. von dem, was der Tag ihm zuführt, so muß dies Wort zeitweilig auch für ihn Geltung haben, und vollends in den Zeiten der ersten Anfänge. Vor hochgespannter Erwartung könnten uns schon einige schwächere Stücke des sogenannten Leipziger Liederbuchs bewahren. Und die rechte Stimmung diesen Versuchen des Sechszehn- bis Achtzehnjährigen gegenüber gibt uns Goethe selbst in der Biographie, wie er, als vorurteilsloser Beobachter, über die Phasen seiner Entwicklung erst sich, dann den Leser verständigt. Geschichtlich, als Belege zu seinem Werden, nicht mit dem Anspruch auf ästhetischen Genuß muß man diese Erstlinge betrachten.

II.

Der größte Theil der Sammlung (88 Seiten von 99) ist unbekannt. Nach Goethe’s eigener Angabe sollte sie aus zwölf Gedichten bestehen. Aber Behrisch hat den elf größeren, die den Hauptbestand bilden, zunächst einen Anhang von sechs kleinen epigrammartigen Nummern angeschlossen und an das Ende ein dreistrophiges Gedichtchen gesetzt: „An meine Lieder.“

Seid, geliebte kleine Lieder,
Zeugen meiner Fröhlichkeit;
Ach, sie kömmt gewiß nicht wieder
Dieser Tage Frühlingszeit.

Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Ludwig Suphan: Das Buch Annette, Deutsche Rundschau Berlin: Paetel, 1985, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Suphan_Das_Buch_Annette_003.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)