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zur Schweizergeschichte. Einstweilen erachte ich es für eine der nächsten Aufgaben der Schweizerpresse, mit dem aufgelesenen Gerede von Englands Hinterlist, das unser Volk durchseucht, endlich aufzuräumen. Für Italien im Gegenteil fliesst drüben vorderhand lauter Milch und Honig. Falls etwa eines Frühlingstages die Milch plötzlich sauer werden sollte, brauchen wir dann nicht mit zu gären. Wir führen mit Italien einen eigenen Konto. Bis dato lautet die Bilanz erfreulich. Von Frankreich haben wir bereits gesprochen. Kann ein westeuropäischer Christenmensch seiner Bildung nicht froh werden, ohne vor Russland einen Kulturschauder zu bekunden? Ich will mich nicht auf meine eigenen Beobachtungen berufen, der ich doch acht Jahre lang in Russland gelebt habe. Ich verweise auf das Zeugnis der Deutschen. Mit denselben Russen, die uns heute so asiatisch geschildert werden, die teuflischen Kosaken inbegriffen, hat ja Preussen nahezu ein Jahrhundert lang in minniglichem Ehebunde geschwelgt. Und wenn das Bündnis morgen wieder erhältlich wäre … Und dann verglichen mit den Türken und Bulgaren, den Kroaten, Slowaken usw.!

Von dem Wert und von der Lebensberechtigung kleiner Nationen und Staaten haben wir Schweizer bekanntlich andere Begriffe. Für uns sind die Serben keine „Bande“, sondern ein Volk. Und zwar ein so lebensberechtigtes und achtungswürdiges Volk wie irgendein anderes. Die Serben haben eine ruhmvolle, heroische Vergangenheit. Ihre Volkspoesie ist an Schönheit jeder andern ebenbürtig, ihre Heldenpoesie sogar überbürtig. Denn so herrliche epische Gesänge wie die serbischen hat seit Homers Zeiten keine

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Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. Rascher & Cie., Zürich 1915, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SpittelerUnserSchweizerStandpunkt.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)