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Ermahnungen laut werden zu lassen, und uns einzig mit uns selber befassen.

Das Distanzgewinnen ist für den Deutschschweizer ganz besonders schwierig. Noch enger als der Westschweizer mit Frankreich ist der Deutschschweizer mit Deutschland auf sämtlichen Kulturgebieten verbunden. Nehmen wir unter anderm die Kunst und Literatur. In wahrhaft grossherziger Weise hat Deutschland unsere Meister aufgenommen, ihnen den Lorbeer gezollt, ohne einen Schatten von Neid und Eifersucht, ja sogar diesen und jenen über die Heimischen erhoben. Unzählige Bande von geschäftlichen Wechselbeziehungen, von geistigem Einverständnis, von Freundschaft haben sich gebildet, ein schönes Eintrachtsverhältnis, das uns während der langen Friedenszeit gänzlich vergessen liess, dass zwischen Deutschland und der Deutschen Schweiz etwas wie eine Grenze steht.

Wollen Sie mich als Beispiel und Rebus annehmen? Ich glaube, mancher von Ihnen kann mir nachfühlen. Es gab in meinem Leben eine Periode, die Periode der edlen Jugendtorheiten, da ich über den Rhein nach dem unbekannten, sagenhaften Deutschland sehnsüchtig wie nach einem Märchenlande hinüberblickte, wo die Träume sich verwirklichen, wo die Gestalten der Poesie verkörpert im hellen Sonnenschein herumwandeln: die edlen, treuherzigen Jünglinge der Romantiker, die sinnigen Jungfrauen des Volksliedes, wo die Leute im täglichen Leben ähnlich reden, wie unsere Klassiker schrieben, wo Berg und Tal, Hain und Quell uns mit Heimataugen grüssen. Das waren freilich naive, kindliche Vorstellungen. Aber heute, wo ich längst weder naiv noch kindlich mehr bin: heute blüht mir Sympathie und Zustimmung

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Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. Rascher & Cie., Zürich 1915, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SpittelerUnserSchweizerStandpunkt.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)