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in der Folge sehr wichtig wurde. Die Zelle, Türen, Schlösser und Gitter wurden mehrmals während der vierundzwanzig Stunden von wachthabenden Beamten revidiert.

Die Schlüssel zu Kinkels Zelle, sowie zu der Tür des Lattengitters in deren Innern wurden des Nachts, nachdem Kinkel in der innern Abteilung eingeschlossen worden, in einem Spinde verwahrt, das sich in der Stube der Inspektoren des Zuchthauses, der sogenannten Revierstube, befand. Da Brune des Nachts zur Revierstube nicht Zutritt hatte und der Schlüssel dazu einem andern, höhern Beamten anvertraut war, so verschaffte er sich von diesem Schlüssel, der während des Tages im Schlosse stak, gelegentlich einen Wachsabdruck, nach welchem meine Spandauer Freunde ein Duplikat anfertigten, das sie Brune zustellten, um ihm den nächtlichen Eintritt in die Revierstube zu ermöglichen. Der Schlüssel zu dem Spinde, das Kinkels Zellenschlüssel verwahrte, wurde, wie Brune wußte, des Abends immer auf das Spind selbst gelegt, so daß er ohne Schwierigkeit sich der Zellenschlüssel bemächtigen konnte. So glaubte sich also Brune in den Stand gesetzt, Kinkel aus seiner Zelle herauszubringen. Nun war verabredet, daß Brune, der in der Nacht vom 5. auf den 6. November auf Kinkels Korridor die Wache hatte, Kinkel, nachdem er ihn aus der Zelle geholt, die Treppe herunter über den Korridor des ersten Stockwerks und dann weiter herunter in den Torweg führen sollte. Auf dem ersten Stockwerk hatte in jener Nacht der Gefangenenwärter Beyer die Aufsicht. Brune nahm es auf sich, Kinkel ungefährdet an Beyer vorüber zu bringen. Ob er diesen auch ins Interesse ziehen, oder in irgend einer Weise zur Zeit anderwärtig beschäftigen und so seine Aufmerksamkeit ablenken wollte, sagte Brune mir nicht. Er versicherte mir nur, ich könne mich darauf verlassen, daß es damit keine Schwierigkeit haben werde. Sobald nun Kinkel in den Torweg heruntergeführt war, sollte ich ihn dort in Empfang nehmen. In einem der Flügel des großen Tors, das sich nach der Hauptstraße öffnete, befand sich ein kleines Pförtchen zum Zweck der Erleichterung des Personenverkehrs. Von dem Schlüssel zu diesem Pförtchen hatten wir uns ebenfalls einen Wachsabdruck verschafft und danach einen Nachschlüssel angefertigt. Meine Aufgabe war es nun, kurz nach Mitternacht, nachdem der Nachtwächter – denn in Spandau gab es damals noch Nachtwächter mit Schnarre und Spieß – auf der Straße vorbeipassiert sein würde, das Pförtchen von der Straße aus zu öffnen, mich in das Innere des Torwegs zu begeben, dort Brune und Kinkel zu erwarten, Kinkel eine Hülle umzuwerfen, ihn durch das Pförtchen ins Freie zu führen und mit ihm nach Krügers Gasthaus zu eilen, wo er die für ihn bereitgehaltenen Kleider anlegen und dann mit mir in Hensels zur Flucht fertig stehenden Wagen steigen sollte.

Ich hatte Kinkel schon vor einiger Zeit durch Brune mit kräftigenden Speisen versehen lassen, um ihn in gutem körperlichen Zustande zu halten. Aber, um lange Aufregung zu vermeiden, wurde ihm erst am Abend des 5. November durch Brune eröffnet, daß etwas für ihn unmittelbar im Werke sei; er solle um die gewöhnliche Zeit zu Bett gehen, doch kurz vor Mitternacht wieder aufstehen, sich ankleiden und bereit sein, seinen Kerker zu verlassen.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s202.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)