Seite:Schneidewin Leutsch 07.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Max Schneidewin: Ernst von Leutsch: Ein Nekrolog

dessen halt und stütze hervorschimmerte. Ein fehler war es, namentlich in den mehr systematischen collegien, dass die zeit zu völliger gleichmässigkeit der behandlung der theile nicht mehr ausreichte; z. b. blieb in den vorlesungen über lat. litteratur für die nachaugusteische zeit dann nur ungefähr eine woche übrig, in der massenhafter stoff noch durchgepeitscht werden musste. Leutsch las dann wohl noch bis zum 16. märz resp. august in einem sonst schon völlig verödeten collegiengebäude weiter, nach einer besonderen bitte an seine getreuen, so lange aushalten zu wollen. Doch bewältigte er Aristophanes’ Frösche oder Vögel ziemlich gleichmässig bis zu ende, von Thukydides etwa 60, von Tacitus etwa 40 capitel, da er hier sehr zahlreiche schöne excurse über realien der kaiserzeit einflocht. Die einleitungen zu den schriftstellern pflegten sich bis in die vierte woche hinzuziehen. Der glanzpunkt seiner vorlesungen waren Aristophanes und Pindar, die commentarien zu den einzelnen Pindarischen epinikien kleine in sich abgerundete kunstwerke. Ein schönes, ausdrucksvolles lesen der dichter, wodurch F. W. Schneidewin so sehr auch die begeisterung seiner zuhörer für die alte poesie zu wecken gewusst hatte, war seine gabe nicht, doch wusste er dem dichterischen gehalt in der form wissenschaftlicher ergründung seines charakters nahe zu dringen. – Ganz besonders wichtig war in Leutsch's augen für studirende philologen die betheiligung an den übungen des seminars (resp. zunächst proseminar’s, welches Leutsch etwa 1860 in’s leben gerufen hatte). Die wissenschaftlichen, halbjährlich zu liefernden abhandlungen waren auch gewiss zum theil sehr fördernd, von der interpretation der schriftsteller kann ich persönlich nicht das gleiche sagen. Leutsch gab sich um eine gewandte fertigkeit in einem eleganten mündlichen latein nicht eben mühe und trat darin empfindlich gegen Sauppe, dem solches latein nur so zufloss, zurück; er pflegte sich auch pedantisch in einige wenige zeilen des schriftstellers (z. b. sogar 2–3 verse Ilias) festzuhaken, ohne dass durch solches übermass des statarischen auch nur für den minimalen umfang des gelesenen etwas bedeutendes herauskam. Ich konnte mich diesen seminarübungen gegenüber nie des dilemma’s erwehren: ist diese art schriftsteller zu lesen die richtige, wie soll dann der philologe zu demjenigen umfange der belesenheit kommen, welcher für ihn ein hauptsächliches rüstzeug ist; ist es aber nicht die richtige art, warum wird sie auch nur für diese übungen so betrieben? Auch stand ich doch unter dem drückenden gefühl, dass leider lehrer und schüler das lateinische nicht mehr so gründlich beherrschten, um den feineren sich an den vorliegenden stoff knüpfenden fragen wahrhaft gerecht zu werden. Diese an dem leiter der seminaristischen disputationen geübte freimüthige kritik möge das im obigen dem selbständigen docenten aus überzeugung gespendete lob in um so helleres licht stellen.

Empfohlene Zitierweise:
Max Schneidewin: Ernst von Leutsch: Ein Nekrolog. Göttingen: Dieterich'sche Verlagshandlung, 1888, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schneidewin_Leutsch_07.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2018)