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HEDWIG, TELL’S FRAU.
(Wilhelm Tell.)


Ohne Zweifel ist der „Tell“ dasjenige der Schiller’schen Stücke, das dem „Wallenstein“ am ehesten den Rang streitig machen kann; steht es ihm in der geschlossenen Composition nach, so hat dagegen vielleicht keins so mächtig und erhebend auf die Zeitgenossen gewirkt, als dieser erhabenste Schwanengesang unsers Dichters. Diese Höhe dankt es aber nicht zum wenigsten der wunderbaren Wahrheit des Lokaltons, mit dem er sein Gemälde auszustatten gewusst hat, die ihm einen ganz eigenthümlichen Reiz verleiht, der um so mehr zu bewundern ist, als Schiller bekanntlich nie in der Schweiz war, weder Gegend noch Volk aus eigener Anschauung kannte. – Aber nicht nur ist die landschaftliche Scenerie mit einer unübertrefflichen Treue geschildert, sondern auch die ganze Denk- und Empfindungsweise des frommen und kräftigen, männlich stolzen Gebirgsvolks ist mit merkwürdiger Sicherheit getroffen, und ebenso hat Schiller den schlichten Ton desselben mit grosser Geschicklichkeit der Pracht seiner Sprache zu vermählen gewusst, sodass uns viele Stellen des Stücks anmuthen wie ein Gesang des Homer, wo denn freilich noch die weitere Aehnlichkeit auffällt, dass der Stoff des „Tell“ nicht minder als dieser schon als ein Erzeugniss der echtesten von allen, der Volkspoesie, vorlag und bei beiden der Dichter nur noch die künstlerische Form dazuzuthun hatte, sodass wir den „Tell“ neben den „Nibelungen“ und dem „Faust“ als das dritte unserer grossen nationalen Gedichte betrachten dürfen.

In dieser Natürlichkeit von Ton und Haltung mit am allergelungensten von allen Figuren des Stücks ist Hedwig, Tell’s Frau, die unsere Aufmerksamkeit zwar nur in drei kurzen Scenen in Anspruch nimmt, aber doch uns hier schon in jedem Stück die Denkungsart der echten Bäuerin

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/346&oldid=- (Version vom 1.8.2018)