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sie ihre Augen aufhoben zum Himmel und die ewige Stetigkeit im Wandel seiner Welten wahrnahmen. Und was sie schauten und verkündeten, war Kosmos, war Harmonie. Jahrhunderte und Jahrtausende sind vergangen, Jahrhunderte und Jahrtausende werden vergehen. Die Menschheitsgeschlechter haben gerungen und werden ringen, Kosmos und Harmonie in allem großen und kleinen, Natur- und Seelenleben zu finden und zu zeigen. Ergründen werden sie nimmer die ewige Schöne und Weisheit. Und wie erhaben der Mensch der Gegenwart sich dünke, weil er die Kraft des Stromes zwingen kann, daß sie ihm frone als Licht oder Wärme oder Bewegung, desselben Stromes, dem sein Urahn mit furchtsamem Gebete ein Füllen opferte, die Gottheit gnädig zu stimmen: dasselbe Gefühl irdischer Ohnmacht bindet sie beide. Geschwunden ist nur die Furcht, seit dem Auge der Seele der ewige Kosmos aufgegangen ist, ihrem Ohre vernehmlich geworden die heilige Harmonie. Geblieben und gewachsen sind Andacht und Ehrfurcht, und an jedem Erdentage lehrt die Wissenschaft einzustimmen in den Sang der Erzengel vor dem Angesicht des Unsichtbaren:

Dein Anblick gibt den Engeln Stärke,
weil keiner dich ergründen mag,
und alle deine hohen Werke
sind herrlich wie am ersten Tag.

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_171.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)