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sein, es ist natürlich auch nichts absolut Neues; zumal die Medizin, Wissenschaft und Kunst zugleich, hat ihrem Wesen nach zu allen Zeiten, in denen sie als Wissenschaft bestand, aus dieser Wechselwirkung von Theorie und Praxis ihre beste Kraft geschöpft, hat daher auch von allen Wissenschaftszweigen die reichste Geschichte. Allein daß etwas Neues mächtig geworden ist, das unser ganzes Leben, im kleinen und großen umgestaltet hat, und von dem wir andere, gar nicht absehbare Umgestaltungen erwarten, das braucht nicht erst gesagt zu werden.

Sich in das tägliche Leben und das Milieu des achtzehnten Jahrhunderts zurückzuversetzen, stellt an die geschichtliche Anpassung kaum geringere Forderungen, als wenn es um achtzehnhundert Jahre geschehen sollte. Fast dasselbe kann man sagen, wenn man den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ins Auge faßt. Am Anfange des Jahrhunderts geht die französische Expedition nach Ägypten, unternimmt Alexander von Humboldt die Reise in das äquatoriale Südamerika; Kalidasas Sakuntala wird in der englischen Übersetzung bekannt; bald kommen die Elgin marbles nach London. Es genügt, an diese wenigen Thatsachen zu erinnern. Das Suchen und Sammeln war das erste, eine endlose Aufgabe. Wie Unübersehbares auch bis heute gewonnen ist, wir sind doch noch mitten in der Arbeit, mag auch ein so gigantisches Unternehmen wie die Verzeichnung der ganzen Tierwelt der Erde bereits angegriffen werden können. Was sollen wir an Einzelnes erinnern, daß dadurch, daß die Urväter aller Menschenkultur, Babylonier und Ägypter, in ihrer Sprache wieder zu uns reden, die Geschichte um Jahrtausende über die Zeiten hinaufgeführt wird, wo die Sagen der Hellenen und Hebräer begannen; daß die ganze Hinterlassenschaft der romanischen und germanischen Völker erst hat wieder entdeckt werden müssen, und so erst eine Kontinuität der Geschichte hergestellt worden ist; daß durch die Erschließung der Sprache Indiens nicht nur eine neue Litteratur bekannt geworden, sondern die Sprachwissenschaft

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_168.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)