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weil es ihr schmeichelte, ihn an sich hängen, sich lieben zu sehen, ohne daß der Knabe wußte, wie und warum?

Leidenschaftliche Liebe hat sie nie für ihn empfunden. Wie hätte sie sonst ihn fortschicken, und gerade diese Zeit nutzen können, sich zu entfernen, ohne ihm die geringste Nachricht von ihrem Aufenthalte zu geben. Wie hätte sie ihn zum zweyten Mahle, nachdem sie ihm bereits den Besitz ihrer Person eingeräumt hatte, fortsenden, und sich unterdessen einem andern ergeben können! Es ist vielmehr sehr wahrscheinlich, daß sie des Jünglings, den sie sich unvorsichtiger Weise aufgehalset hatte, gern mit guter Manier wieder los gewesen wäre.

Dieß zum Voraus, ehe wir zur näheren Beleuchtung der Art von Neigung übergehen, die er, Rousseau, für Madame de Warens empfand. Das, was er darüber sagt, ist eben so unzuverlässig, als die Schilderung ihres Charakters.

Der erste Augenblick, worin er Madame de Warens sah, ist, seiner Behauptung zu Folge, der einzige gewesen, worin er eine leidenschaftliche Bewegung für sie empfunden hat. Dieß ist falsch, wie wir gleich sehen werden. Aber gewiß ist es, dasjenige, was er in diesem Augenblicke empfand, war nicht Liebe. Es war Verwunderung, untermischt mit Eitelkeit und geheimer Regung der Sinnlichkeit. Er hatte sich die Wohlthäterin, an die man ihn gewiesen hatte, als ein altes, grämliches, eingeschrumpftes Mütterchen gedacht, und er fand eine junge Dame, die ihn mit Freundlichkeit und einer gewissen Art von Achtung aufnahm. Die Empfindung, welche sie ihm