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Walther Kabel: Prozeßwütige bulgarische Bauern. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 6, S. 222–224

willen die Entscheidung der Behörden angerufen. In jeder kleinen Stadt, mag sie auch nur knappe zweitausend Einwohner zählen, gibt es mindestens ein Dutzend sogenannter Advokaten, die, ohne als Prozeßvertreter bei Gericht zugelassen zu sein, sich lediglich von der Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit dieser einfachen Leute nähren.

Ein reicher Bauer erscheint bei seinem langjährigen Rechtsbeistand und will gegen seine Dorfgemeinde klagen, weil diese ohne seine Erlaubnis einen öffentlichen Weg über seinen Acker geführt hat. Der ‚Advokat‘ weiß sehr gut, daß die Sache vor das Gericht der nächsten größeren Stadt gehört, und daß er hierbei überhaupt nichts ausrichten kann. Trotzdem schlägt er seinem Klienten vor, zunächst eine Eingabe bei Gericht zu machen. Vielleicht würde das schon helfen. Der Prozeßhansel ist einverstanden. Nun kommt die wichtigste Frage. Der Herr Advokat besitzt nämlich drei verschiedene Sorten von Schreibfedern: eine stählerne, eine silberne und eine goldene. Die Benützung der letzteren zur Anfertigung der Eingabe kostet fünf Lev (Frank), dann ist der Erfolg aber auch ganz sicher. Die beiden ersteren sind billiger. Natürlich wird die goldene Feder ausgesucht. Ehrfürchtig schaut der Bauer zu, wie das Schriftstück entsteht. Dann liest der Herr ‚Advokat‘ das Machwerk vor. Es ist derart unverständlich abgefaßt und enthält so viele grobe Beleidigungen der Dorfgemeinde, daß der Bauer seiner höchsten Zufriedenheit Ausdruck gibt. Jetzt wird die notwendige Stempelmarke möglichst lose auf den Bogen geklebt. Sie kostet weitere acht Lev. Und nun schiebt der Herr Rechtsbeistand die Eingabe in einen Umschlag, versiegelt diesen, versieht ihn mit einer Briefmarke, schreibt seinen eigenen Namen und seine Adresse darauf und läßt den fertigen Brief von dem Bauern selbst in den nächsten Postkasten werfen, damit der Mann auch sicher ist, daß die Eingabe richtig abgeht. Der Bauer, der nicht lesen kann, tut wie ihm geheißen, und kehrt vergnügt heim. Hat ihm doch der ‚Advokat‘ versprochen, die entscheidende Antwort würde spätestens in zwei Wochen eintreffen. Daß die famose Eingabe sich schon am nächsten Tage wieder in Händen seines gewissenlosen Ratgebers befindet,

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Walther Kabel: Prozeßwütige bulgarische Bauern. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 6, S. 222–224. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proze%C3%9Fw%C3%BCtige_bulgarische_Bauern.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)