Seite:Proehle Rheinlands Sagen und Geschichten.djvu/165

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und wollte ihr übriges Leben in dieser Höhle zubringen. Sie machte sich ein Bett von Laub und Ästen der Bäume. Sonst hatte sie nichts mehr außer den Wurzeln, was zu ihrer Lebensnahrung vonnöten war. Weil sie aber ein so kümmerliches Leben führen mußte, vermochte sie bald ihr liebes Kindlein nicht mehr zu säugen.

Dieses unerträgliche Leid konnte sie nicht länger mehr ansehen. Sie legte das sterbende Lämmlein unter einen Baum. Allda knieete sie nieder mit erhobenen Händen und betete, daß Gott ihr Kindlein erhalten möchte.

Sogleich kam eine Hirschkuh zu ihr, welche sich als ein zahmes Vieh anstellte und freundlich um sie her strich, als wollte sie gleichsam sagen, Gott habe sie dahergesendet, daß sie das Kindlein ernähren solle. Die betrübte Mutter erkannte sogleich die Fürsehung Gottes und ließ das Kind so lange an der Hirschkuh saugen, bis es wieder Kraft bekam. Durch diese himmlische Wohlthat wurde die liebe Genovefa so sehr erfreut, daß sie mit vielen süßen Zähren Gott danksagte und um Fortsetzung dieser Güte demütig anhielt.

Ihr Gebet wurde erhöret und die Hirschkuh kam täglich, so lange sie in der Einöde waren, zweimal das Kind zu säugen. Dies war nun die einzige Nahrung, welche das unschuldige Kind sieben Jahre lang empfing, da währenddem seine gute Mutter nur von Wurzeln und Kräutern lebte. Ihre Kammerjungfrauen hatte sie vertauscht mit den unvernünftigen Tieren, ihr sanftes Ruhebette mit hartem Laub und Reisern.

Im Sommer war zwar ihr Elend einigermaßen erträglich; wenn sie aber im Winter trinken wollte, mußte sie das gefrorene Eis im Munde behalten, bis es schmolz; wenn sie Wurzeln haben wollte, mußte sie den Schnee fortschaffen und gar mühselig mit einem Stücke Holz in die Erde graben; wenn sie sich erwärmen wollte, so mußte sie ihre eiskalten Hände so lange zusammenschlagen, bis sie in etwas erwärmt wurden. Ach Gott, wie müssen dieser verlassenen Gräfin die Winternächte so lang worden sein! Wer will aber leugnen, daß, wenn die Mutter so untröstlich weinete, das arme Kind nicht auch mit ihr getrauert habe? Sie brachte die meiste Zeit im Gebet zu und übte sich je länger je mehr in der Andacht göttlicher Liebe.

Einstens, als sie bei ihrer Höhe knieend ihre Augen starr gen Himmel gerichtet hatte, sah sie einen Engel von der Höhe zu ihr herabfliegen, welcher

Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/165&oldid=- (Version vom 1.8.2018)