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zu schmausen, sondern die Kerne als Wurfgeschosse zu gebrauchen. Und dies geschieht trotz des anwesenden Lehrers, der einen einmal dafür an der Nase zupfte, trotz des entrüsteten Primus der Klasse, der wohl ruft: lassen Sie diese Kindereien! Den Obstkernen gesellten sich als Wurfgeschosse gelegentlich noch Handschuhe und Schwammstücke hinzu. Daß die Arbeit in Mathematik in der Schule nicht bedeutend war, geht hieraus hervor; aber auch in den sonst zahlreichen Eintragungen über häusliche Arbeit erwähnt sie unser Schüler nicht. Kein Wunder, daß, als das Maturitätsexamen herankam, der Leutnant über die drohenden Aufgaben arg gequält wurde, so, daß er zuletzt im Spaß sagte: so frage man doch einen dummen Jungen aus. Und als der Tag kam, waren Julius und sein bester Freund Gustav Blöde schon halb 10 Uhr fertig, denn es war, wie er schreibt, zum Totlachen leicht gewesen. War die Mathematik demnach ein Aschenbrödel, so war von Naturwissenschaft auf dem damaligen Gymnasium gar nicht die Rede.[1] In allen Klassen zeigt der Lektionsplan von 1833 nicht eine Stunde darin. Die Unkenntnis in Pflanzen- und Tierreich, über den Bau des Menschen, über physikalische oder gar chemische Vorgänge mag damals in der Jugendwelt groß gewesen sein. Ein Vorkommnis in der Schule erhellt dies blitzartig. Es kommt eines Tages bei M. Sillig im Tacitus eine Stelle zur Besprechung, in der es heißt: das Meer warf eine Menge Fische an das Land. Auf die Frage nach Fischen des Mittelmeeres antwortet der Primaner Jacoby: Austern. Ohne daß etwa Gelächter ent­steht, denn die Kenntnisse vieler mögen hierin schwach gewesen sein, wird vom Lehrer der Tunfisch genannt, den der Tagebuch­schreiber Dunfisch schreibt und mit Dünn in Zusammenhang bringt! In der Pause schreibt ein Spaßvogel an die Tafel: Austern sind Fische auctore doctissimo Jacoby, und sorgt dafür, daß diese Inschrift für die folgende Mathematikstunde stehen bleibt. In einer Zeit, in der dem in der Stadt und im Binnenland Lebenden die Anschauung in der Wirklichkeit noch vielfach fehlte, ist dergleichen nicht zu verwundern. Ich entsinne mich, daß noch vor 50 Jahren ein großstädtischer Gymnasiast als bestimmt annahm, Hirsche seien ausgewachsene Rehe!


  1. S. auch Gustav Klemm, Vor fünfzig Jahren, Bd. 2, S. 259.
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Paul Rachel: Altdresdner Familienleben. Verlag des Vereins für Geschichte Dresdens, Dresden 1915, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Paul_Rachel_Altdresdner_Familienleben.pdf/78&oldid=- (Version vom 6.3.2024)